Es brummt. Man kann es nicht anders sagen. Die Calwer Passage, bis vor kurzem Ödnis und Leere, brummt, als sei sie nie leergestanden. Im November ist hier das Fluxus eingezogen. „Temporary Concept Mall“ nennt sich das etwas umständlich, 16 kleine Läden auf Zeit, die keiner Kette angehören. Komplett das Gegenteil von dem, was an anderer Stelle in Stuttgart geschieht.
Für alle Nicht-Stuttgarter: Stuttgarts Innenstadt verändert sich dramatisch. Anfang Oktober hat hinter dem Hauptbahnhof das „Milaneo“ eröffnet, mit 200 Läden und 43.000 Quadratmetern das größte Shopping-Center im Südwesten. Kurz zuvor machte das kleinere „Gerber“ in der Tübingerstraße mit 86 Shops und 25.000 Quadratmetern auf. Nicht umsonst sprach der Esslinger OB Zieger von einer Kannibalisierung der Einzelhandelsstandorte. Man könnte sich fragen, wer braucht in Stuttgart noch einen Media Markt, H&M, O2 oder ALDI? Oder gar die unsägliche Billig-Ausbeuterklamottenkette Primark, Platzhirsch im Milaneo? Aber schon jetzt reichen die 1200 Parkplätze am Milaneo nicht mehr aus. Notpläne werden entwickelt, um die zugeparkten Anwohner zu schützen, und überall sind jetzt Teenies mit unzähligen Primark-Tüten zu sehen. Drei Tage nach Eröffnung des Milaneo war ich an einem Samstag Nachmittag im Karstadt. Gespenstische Stille. Ich kaufte meine jährlichen Socken und fragte die Verkäuferin, ob das jetzt am Milaneo liege und ob sie Angst um ihren Job hätte. Sie hielt das mit dem Milaneo für einen Anfangshype, aber Angst um ihren Job hatte sie. Zwei Wochen später kam die Nachricht, dass Karstadt in Stuttgart schließt. Kurz darauf zog Hugendubel nach. Der Marktplatz ist sowieso schon eine Katastrophe: Haufler weg, Café Scholz weg, Betten Braun weg, Spielwaren Kurtz deutlich verkleinert.
(http://service.stuttgarter-zeitung.de/fb/Einzelhandelskarte.html)
Und nun also das Fluxus. Auf zum Selbsttest, dorthin, wo früher Luxusläden ihr Dasein fristeten! Sogar die Schweizer sind schon da!
Bevor man in die Passage geht, auf der anderen Seite neben Gosch und wahrscheinlich auf Dauer findet sich Herr Kächele. Hier gibt es Maultaschen, auch vegetarische, auf die Hand und zum Kaufen, dazu natürlich den unverzichtbaren Kartoffelsalat. Außerdem verkauft Herr Kächele Marmelade der erfolgreichen Foodbloggerin „Die Landfrau.“ Die große mit Frischkäse und Tomate belegte Laugenbrezel schmeckt saulecker.
Am Eingang der Calwer Passage links liegt Tattis Laden. Ein kleines, minimalistisches Café mit Stehplätzen um einen gemeinsamen Tisch herum, hell und ansprechend. Theoretisch gibt es vegane Sandwiches und deshalb bin ich auch hier, aber die sind leider ausverkauft. Übriggeblieben sind die mit Pastrami. Der Mann hinter der Theke will sich leider nicht fotografieren lassen.
Das Café Bohème ist ein Café, wie man es in Stuttgart in den Stadtteilen, aber bisher nicht in der Innenstadt findet. Es ist gemütlich, die Stühle sind bunt zusammengewürfelt, in der Sofaecke haben es sich Mütter mit Kleinkindern bequem gemacht und es läuft gepflegter Jazz. Eine Gruppe junger Älbler, die auch schon hierhergefunden haben, diskutiert die Bahnzeiten nach Ulm. Nach Provisorium oder Übergang sieht hier gar nichts aus. Es gibt Paprika-Tortilla, Zuccini-Suppe oder Ofenschlupfer. Das wöchentliche Dinner, an dem man im ersten Stock an langen Tischen ein 3-Gänge-Überraschungsmenü genießt, ist bis Mitte Januar ausgebucht, und dabei macht das Fluxus doch schon Ende Januar wieder zu.
Bei Temps, dem temporären Kaufhaus, gibt es Mode, Taschen und Schmuck von kleinen Labels und eine improvisierte Umkleidekabine. Temps war schon zur Zwischenmiete am Marienplatz, dort sehr erfolgreich, und möchte im Gegensatz zu den anderen Mietern gar nicht dauerhaft im Fluxus sein, weil es zum Konzept gehört, den Standort zu wechseln.
Besonders viel los ist bei Superjuju, wo es Gschenkle und Krüschtle, sprich: potenzielle Weihnachtsgeschenke (Bilderbücher, Schmuck, Kalender, Postkarten) gibt.
Bei Steybe gibt es die Kindersachen, die ich am Samstag bei Kaufhof in der Spielwarenabteilung (totale Anarchie…) vergeblich gesucht habe: Holzspielzeug, Bücher und Spiele ohne Elektronik.
Beim Mädchenflohmarkt finde ich eine mögliche Erklärung, warum der Typ in Tattis Laden keine Lust auf ein Foto hatte. In dem Laden mit schönen und glamourösen (Frauen-)Klamotten kriegt man schier die Krise, als ich um ein Foto bitte, weil offensichtlich mehrmals täglich derartige Bitten ausgesprochen werden. Ich kriege mein Foto trotzdem, vielen Dank!
Ja, das Fluxus brummt. Viele Neugierige und Schaulustige ziehen an den Läden vorbei, und in den Cafés hocken die Leute, als seien sie schon seit vielen Monaten Stammgäste. Ob sie tatsächlich Stammgäste werden können, ist offen. Noch ist das Fluxus auf Zeit bis Ende Januar angelegt, und die realen Mieten wird sich hier niemand leisten können. Also, hingehen, unterstützen und zeigen: Es gibt genügend Leute, die auf Gerber und Milaneo verzichten können, die kleine, gemütliche Läden möchten statt dem Einheitsbrei und Billigschrott der großen Ketten. Und deswegen werden wir hier demnächst auch noch das Welthaus mit Weltcafé vorstellen.
PS: Ebenfalls hingehen: Zur 250. Montagsdemo am Montag, 8. Dezember, 18 Uhr, am Hauptbahnhof! Die Stadt will das noch verhindern, weil die böse Montagsdemo den Verkehr lahmlegt. Also, ich glaube, das schaffen Milaneo-Verkehr und Baustellenverkehr von Stuttgart 21 ganz alleine!
PPS:
Elisabeth Kabatek zu Gast im Theater der Altstadt: Beim „Lesezeichen“ am 14.12.2014, 11 Uhr, stellen Susanne Heydenreich und Elisabeth Kabatek vor, was Sie in letzter Zeit gelesen haben. Dazu gibt es Frühstück!
http://www.theater-der-altstadt.de
Danke, danke Elisabeth – für deine aufopferunsvollen Selbsttests ! Wenigsten bekomme ich so als EX-Stuttgarterin mit, dass „no net alles dr Bach na‘ isch“ und ein bisschen Anarcho und Charme geblieben sind. Lg Brigitte