Vom Lesen und der Liebe – vielleicht

Vor kurzem sah ich in der U-Bahn ein Pärchen, das ein Buch las. Was ist daran bemerkenswert, werden Sie fragen. Nun, sie lasen tatsächlich in einem, sprich: demselben Buch. Gleichzeitig.

Ich fahre seit vielen Jahren sehr viel U-Bahn in Stuttgart (ja doch, ich weiß, dass das Ding eigentlich Stadtbahn heißt, aber so sagt das eben kein Mensch). Im Laufe des letzten Jahres hat sich die Lage dramatisch verändert. Wenn ich mich jetzt so in meinem Wagen umschaue, dann sind ungefähr 95 Prozent aller Fahrgäste mit ihren Handys beschäftigt. Das ist eigentlich schade, denn früher haben die Leute viel mehr telefoniert. Jetzt beugen sie sich stumm über ihre Smartphones, drücken und wischen und gucken oder hören Musik, und es gibt viel weniger zum Ausspionieren. Ich kann mich ja wohl schlecht über die Handys fremder Menschen beugen und fragen, „Entschuldigen Sie, aber dürfte ich wohl mal ihre What’s App mitlesen? Ich könnte ein bisschen Inspiration gebrauchen.“ All die spannenden Gespräche, die ich begeistert belauscht und zum Teil schriftlich dokumentiert habe! Einmal diskutierte eine Frau mit ihrer Mutter, ob sie schwanger werden sollte oder nicht. Ein andermal besprach eine offensichtlich ungewollt schwanger gewordene Frau die Sache mit ihrer besten Freundin. Trennungen, Streits, Heulanfälle, jemand, der gerade frisch aus dem Knast kam, alles schon mitgehört. Und das entfällt jetzt quasi ersatzlos! Woher soll ich nun meine Anregungen nehmen? Und gelesen wird sowieso nicht mehr. Höchstens mal die Zeitung.

Und nun also das Pärchen. U4 Richtung Untertürkheim. Ich saß bereits, da stiegen die beiden ein und nahmen auf der anderen Seite des Gangs Platz. Schnell und ohne zu reden. Wie jemand, der einen Plan hat. Kaum saßen beide, nebeneinander und gegen die Fahrtrichtung, da sahen sie sich freudig-erwartungsvoll an. Immer noch stumm. Sie kramte einen dicken Schmöker aus der Tasche. Ein Taschenbuch, nicht mehr taufrisch, vom Typ „Vom Winde verweht.“ Wobei ich bezweifle, dass Männer in der U-Bahn „Vom Winde verweht“ lesen. Vielleicht war es ja Ken Follett oder Dan Brown. Sie schlug das dicke Buch auf. Das ist aber nun ein bisschen unhöflich, dachte ich, sie liest, und ihr Partner kann sich solange alleine beschäftigen? Da wusste ich ja noch nicht, dass sie sich das Buch teilten. Es lag nämlich nicht etwa in der Mitte, auf einem Knie von ihm, einem Knie von ihr, sondern komplett auf ihrem Schoß. Er fing aber sofort an, mitzulesen. Das kam mir etwas unbequem vor, weil er sich zu ihr hinüberlehnen musste, und das Buch ziemlich klein gedruckt war, aber das schien ihn nicht zu stören. Sowieso wirkten die beiden, als hätten sie im gemeinsamen Lesen Routine.

Dann passierte logischerweise eine ganze Weile gar nichts. Die beiden lasen, sehr stumm und sehr konzentriert, und ich betrachtete sie, ebenso stumm und ebenso konzentriert, und machte mir so meine Gedanken, und weil sie so in ihr Buch versunken waren, bemerkten sie meine ungenierten Blicke nicht. Ich schätzte sie auf Anfang, Mitte dreißig. Sie trugen Outdoor-Klamotten und Wanderschuhe, sie eine Jacke von Marmot, er eine von Jack Wolfskin. Es war aber ein Adventssamstag und eigentlich zu spät zum Wandern. Die spannende Frage war jetzt natürlich: Was für ein System hatten sie fürs Umblättern? Menschen lesen ja nun unterschiedlich schnell. Oder hatten sie sich über die Jahre synchronisiert wie ein Computer und lasen nun in perfekter Gleichzeitigkeit, und sie würde, ohne auch nur eine Sekunde aufzusehen, die Seite umblättern? Hoffentlich stiegen sie nicht gleich wieder aus, denn dann würde ich es nie erfahren!

Nach einiger Zeit und einigen Haltestellen blickte sie auf. Er blickte ebenfalls auf, fast gleichzeitig. Sie schaute zum Fenster hinaus. Er schaute zum Fenster hinaus. Beide sahen sich nicht an. Sie warteten. Warteten darauf, dass der Andere endlich mit den beiden Seiten fertig war. Erst nach mehreren Minuten nahmen sie Blickkontakt auf. Sie murmelte etwas, das wie ein Vorwurf klang, dann blätterte sie um. Leider musste ich jetzt aussteigen.

Ich würde ja zu gerne wissen, welches Buch die beiden gelesen haben. Und wie lange sie schon synchron lesen. Und ob auch im Urlaub am Strand nur ein Buch auf ihrem Handtuch liegt. Und ob sie lange diskutieren, bis sie ein Buch finden, das sie beide lesen wollen. Und wer von beiden auf die Idee kam, dass man sich ein zweites Buch sparen kann. Und ob Gewichts- und Transportgründe dahinterstecken. Oder einfach nur – die Liebe.

PS: Ein wirklich toller Song zum Anhören und Anschauen – Baba Yetu, das Vaterunser auf Swahili, vertont von Christopher Tin für das Computerspiel (!) Civilization IV, hier in der Version des Youtube-Stars Peter Hollens mit ganz viel split screen. Viel Freude damit!

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