Gestern Abend hat die Stuttgarter Jazzsängerin Anne Czichowsky im Stuttgarter Jazzclub Bix ihre Tour mit „Lines for Ladies“ begonnen. Was für ein fulminanter Abend!
Vor vielen Jahren besuchte ich einen Jazzworkshop für Sängerinnen und Sänger im Volkshochschulheim Inzigkofen im Donautal. Es war eine Woche mit sehr wenig Schlaf und sehr viel Musik. Von Jazz hatte ich zu diesem Zeitpunkt keinen blassen Schimmer. Tagsüber gab es Workshops zu Stimmbildung, Harmonielehre und Improvisation. Nach dem Abendessen und bis spät in die Nacht konnte man, so man sich traute (ich traute mich nicht) mit der fabelhaften Live-Band vor den Workshop-Teilnehmern auftreten. Unzählige gute und weniger gute Sängerinnen und Sänger traten vors Publikum, die meisten sehr ambitioniert und sehr aufgeregt. Doch dann kam eine junge Frau, und sie machte alles anders: Sie brachte nämlich das Publikum dazu, gemeinsam mit ihr zu singen und zu improvisieren. Der Saal rockte. Und schon damals war klar: Diese junge Frau namens Anne Czichowsky ist ein Ausnahmetalent. Eine Sängerin, der es nicht um Selbstdarstellung geht, sondern um Musik, und zwar Musik als Gemeinschaftserlebnis, gemeinsam mit einer Band, gemeinsam mit dem Publikum.
Die junge Sängerin, die damals an der Musikhochschule Stuttgart studierte und den Saal rockte, hat mittlerweile neben unzähligen anderen Preisen den Jazzpreis des Baden-Württemberg gewonnen, als erste Jazzsängerin, wohlgemerkt, unterrichtet an drei Musikhochschulen, und vor allem singt sie. Scat und Bebop sind ihre Spezialität und ihre Stärke, die sie in wechselnden Formationen präsentiert. Annes Karriere über die Jahre mitzuverfolgen und zu hören, wie sich ihre stimmlichen Fähigkeiten vor allem beim Scatten weiterentwickeln, ist ein echtes Privileg.
Im Augenblick tourt Anne mit dem Projekt „Lines for Ladies“ und war damit gestern Abend im Stuttgarter Jazzclub Bix zu Gast. Lines for Ladies ist ein reines Frauenquintett, im männerdominierten Jazz, wo Frauen von Musikern oft nur als schmückendes Beiwerk betrachtet werden, ist allein das bereits ein Phänomen (und wie Anne gestern erzählte, werden sie in Interviews oft gefragt, ob es keinen Zickenkrieg gibt – es lebe der Sexismus!) Aber auch die Zusammensetzung der Ladies kann sich sehen lassen, tourt doch die Jazzlegende Sheila Jordan mit ihren jüngeren Kolleginnen. Die First Lady of Bebop war befreundet mit Charlie Parker und Horace Silver und die erste Sängerin, die auf dem Label Blue Note eine Platte aufnahm. Wenn Sie jetzt ahnen, dass die Dame nicht mehr ganz jung sein kann, in der Tat: Sheila Jordan ist 87 Jahre alt!
Soweit die Theorie, und jetzt vergessen Sie alles, was im oberen Abschnitt steht. Ja, es gibt eine CD „Lines for Ladies“ mit Sheila Jordan, aber sie selbst konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Auch wenn es ihr wohl schon deutlich besser geht, in den Flieger steigen durfte sie nicht. Und wer ist stattdessen in New York in den Flieger gestiegen und einen Tag vor dem Konzert in Stuttgart gelandet? Darmon Meader, der Freunden des Vocal Jazz aus der Formation „New York Voices“ bekannt ist. Die New York Voices, das sind zwei Frauen und zwei Männer, die leider nicht ganz so bekannt sind wie beispielsweise Manhattan Transfer, aber um Klassen besser. Damals, in Inzigkofen, war übrigens Darmon Meader einer der Lehrkräfte, und so schließt sich der Kreis wieder.
Und das Konzert selbst? Fulminant. Eine echte Entdeckung ist die Amerikanerin Kristin Korb, die „wegen eines Wikingers“ nach Dänemark gezogen ist. Die spielt Kontrabass und improvisiert gleichzeitig. O my God! Herzstück des Abends sind aber eindeutig Anne Czichowsky, Sabine Kühlich und Darmon Meader. Die singen und scatten mal solo, mal zu zweit, mal zu dritt, und sie beweisen die unglaubliche Magie des Jazz: Musik, die aus dem Augenblick entsteht, die keine tagelangen Proben braucht, die nicht wiederholbar ist, die pure Lust an der Musik und intensivste Kommunikation miteinander ist. Dem zuzuschauen und zuzuhören ist die reine Freude. Mein persönliches Highlight: „I wish you love“, das Anne auf Englisch singt und Sabine (gleichzeitig!) auf Französisch, dann kommen noch zwei Saxophone ins Spiel… Zum Dahinschmelzen! Wenn Sie auch nur halbwegs in der Nähe eines der Konzerte sind: Nix wie hin!
von links: Kristin Korb, Anne Czichowsky, Darmon Meader, Sabine Kühlich
Leider passte die Pianistin Laia Genc nicht aufs Bild.
Lines for Ladies:
20. Mai Jazztone, Lörrach
22. Mai Kulturzentrum am Münster, Konstanz
23. Mai Domicile Jazzclub, Pforzheim
26. Mai, Hilden
22. Oktober, Tübingen
29. Oktober, Müllheim
http://www.annesingsjazz.de
http://www.linesforladies.com
…und wenn Sie mal Darmon Meader/New York Voices singen hören wollen (er singt das Solo):
PS. Meine Rechtschreibprüfung spricht Schwäbisch: Für „wish“ hat sie mir „wisch“ vorgeschlagen.
PPS. ALDI treibt die Milchbauern in den Ruin und drückt den Milchpreis in tiefste Tiefen. Boykottieren!