Flüchtlingsarbeit und Ehrenamt – wer macht was und wie geht’s weiter? Eine Diskussion.

Das Thema Flüchtlinge mag im Augenblick aufgrund des faulen Deals zwischen EU und Türkei nicht mehr so hochkochen. Die Zuwanderungszahlen sind stark zurückgegangen – auch in Stuttgart, wo zahlreiche Übergangswohnheime und Turnhallen wieder geräumt werden konnten.

Das lässt viele Menschen gar nicht mehr an die Tausenden von Flüchtlingen denken, die bereits in Stuttgart leben und in zermürbender Wartezeit darauf warten, dass ihre Anträge vom BAMF bearbeitet werden. Zum Thema „Ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit – Solidarität als Lösung“ veranstaltete der Kreisverband der Stuttgarter Linken einen Diskussionsabend, der zum einen ein Licht warf auf die Lebenswirklichkeit der Flüchtlinge in Stuttgart, zum anderen aber fragte, ob sich nicht die Stadt Stuttgart an vielen Stellen aus ihrer Verantwortung schleicht.

In Stuttgart engagieren sich unzählige Menschen ehrenamtlich in Flüchtlingskreisen. Das ist löblich und nötig. Aber können die Ehrenamtlichen alles auffangen, was an Jobs anfällt? Der Stellenschlüssel in einem Flüchtlingsheim beträgt 1:136. Will heißen, ein/e Sozialarbeiter/in kümmert sich um 136 Menschen. 136 Menschen, Erwachsene und Kinder, mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Bildungsstand, gesundheitlichen Problemen und Traumatisierungen. „Was wir machen, ist eigentlich nur Schadensbegrenzung“, sagt ein junger Sozialarbeiter im Publikum. Er ist nicht allein gekommen, KollegInnen aus verschiedenen Unterkünften in Stuttgart nehmen an der Diskussion teil. Sie sind alle auffallend jung. „Ältere SozialarbeiterInnen bewerben sich erst gar nicht auf die Knochenjobs“, sagt eine ältere Sozialarbeiterin. „Die werden da regelrecht verbrannt. Das ist eigentlich brutal. Mehr als zwei, drei Jahre halten die das doch gar nicht durch.“ Meist geht es um ganz elementare Dinge – vor allem müssen die teilweise in unverständlichem Beamtendeutsch geschriebenen Bescheide der Behörden erklärt werden. Das kostet Zeit und zermürbt, wenn eigentlich viel dringlichere Probleme anstehen. So sind die Hauptamtlichen einerseits froh über jeden Ehrenamtlichen, andererseits müssen auch diese wieder organisiert und betreut werden. „Doch die Stadt Stuttgart kalkuliert die Ehrenamtlichen mittlerweile schon fest mit ein“, erzählt ein Sozialarbeiter. „Die sagen gleich, schickt doch einen Ehrenamtlichen mit zum Termin.“ Bloß, nicht immer findet sich jemand, der Arabisch oder Farsi spricht. Frustrierend sei auch, wenn Flüchtlinge zum Arzt müssten und sich dann nicht mit dem Arzt verständigen könnten.

Eine kleine Erfolgsgeschichte ist das Begegungscafé des Flüchtlingsheims Böblingerstraße im Stuttgarter Süden. Drei Stunden hat das komplett unter ehrenamtlicher Leitung stehende Café im Generationenhaus Heslach jeden Abend geöffnet. Dort machen Kinder ihre Hausaufgaben, es gibt Deutschnachhilfe, Spiele werden gespielt oder es wird einfach nur geredet. „Für die Flüchtlinge bietet das die Möglichkeit, aus den engen Räumen der Flüchtlingsunterkunft rauszukommen. Tapetenwechsel, eben, und der ist dringend erforderlich“, berichtet Heide Soldner vom Freundeskreis. Doch auch in der Böblinger Straße gibt es Grenzen des Ehrenamts. „Die Stadt hat sich darauf verlassen, dass einer der Nachbarn, der im Freundeskreis ist, bei Lärmproblemen mit den Nachbarn schlichtet. Der steht manchmal mitten in der Nacht auf. Aber das kann kein Ehrenamtlicher auf Dauer leisten.“

Es fehlt überall an Fachkräften. Gerade mal eine Stelle gibt es in Stuttgart für die Koordinierung der Ehrenamtlichen. Es gibt viel zu wenig psychologische Beratung und Betreuung für traumatisierte Kinder und Erwachsene. Auch die können Ehrenamtliche nicht leisten. Und der Sprachunterricht für die Flüchtlinge leidet daran, dass viele Lehrkräfte wieder abspringen, weil die Unterrichtstätigkeit viel zu schlecht bezahlt wird. „Wir sind ja viel mehr als Lehrkräfte“, erzählt Helen Bärlin, die ein paar Jahre lang Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben hat, aber auf Dauer nicht davon leben konnte, weil die Tätigkeit nur mit Honorar vergütet wird. Festanstellungen gibt es nicht. „Wir sind Sozialarbeiter, Vertrauenspersonen, Ansprechpartner. Aber den Zeitaufwand dafür bekommen wir nicht bezahlt. Da ist ein hoher ehrenamtlicher Anteil, der einfach nicht gesehen wird“, erklärt sie. Frust ist die Folge. Und dann sucht man sich was anderes.

Frustriert sind auch viele Ehrenamtliche wegen der Abschiebungen, die seit einigen Wochen vor allem die Balkanflüchtlinge treffen. Niemand hat ein gutes Gefühl, wenn Roma nach Serbien abgeschoben werden, zurück in Armut und Diskriminierung. „Da sind Freundschaften entstanden und Beziehungen, und dann müssen die Leute gehen“, erzählt Heide Soldner. „Die Integrationsbemühungen spielen überhaupt keine Rolle. Die Kinder haben Deutsch gelernt, ein Job steht in Aussicht, das ist alles unwesentlich. Entscheidend ist allein das Herkunftsland.“ Immerhin konnte der Freundeskreis für die unfreiwilligen Rückkehrer Geld sammeln. „Für die Familien war das ein kleines Zeichen, dass wir ihre Not ernst nehmen und daran glauben.“

In Stuttgart lehnte der Gemeinderat Ende 2015 den Antrag von SÖS/Linke ab, den Personalschlüssel in den Flüchtlingsheimen auf 1:120 zu verbessern. Angesichts der akuten Nöte von Sozialarbeitern, Flüchtlingen und Ehrenamtlichen ist das nicht nachvollziehbar. Vor allem, wenn man sieht, wie viel Geld für Absurditäten wie Stuttgart 21 oder den Rosensteintunnel aus dem Fenster geworfen wird.

P.S. In knapp zwei Wochen, am Donnerstag, 23. Juni, stimmen die Briten über den Brexit ab. Für alle Briten, die diesen Blog lesen und nicht wissen, wo sie ihr Kreuzchen machen sollen, hänge ich einen echten, korrekt ausgefüllten Stimmzettel an.
EU Referendum
P.P.S. Sollten die Briten tatsächlich die EU verlassen, so wäre das u.a. deshalb höchst bedauerlich, weil die EU damit ihren besten Humor verlieren würde. Zum Beispiel Rhik Samadders „Inspect a gadget“-Kolumne im Guardian. Dort untersucht er Haushalts- und sonstige Geräte auf ihre Tauglichkeit. Zum Wegschmeißen! Besonders hübsches Beispiel: Der Egg-Master. Man muss kein Englisch können, um das Video anzuschauen. Nur zur Erklärung, das, was da rauskommt, ist keine Banane, sondern ein Ei. Ein Ei, das umfällt wie ein schlapper…

http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2015/jul/15/kitchen-gadgets-review-egg-master-horrifying-unholy-affair

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