Ich gebe zu, ich bin spät dran. Schließlich war „Toni Erdmann“ der Überraschungsknaller des Filmfestivals in Cannes – letztes Jahr im Mai. In deutschen Kinos läuft der Film seit Juli.
Aber irgendwie habe ich ihn immer verpasst, schließlich muss man sich die drei Stunden Zeit auch erst einmal aus den Rippen schneiden. Und ich hätte sicher nicht gewagt, darüber zu bloggen, wäre das Kino gestern nicht knallvoll gewesen. Zehn Minuten vor Filmbeginn zur Kasse geschlendert in der irrigen Annahme, mehr oder weniger allein im Saal zu sitzen, und dann die letzte Karte gekriegt! Daraus schließe ich, dass ich nicht die Einzige bin, die den Film bisher nicht gesehen hat, und so wage ich es doch, darüber zu bloggen.
In gewisser Weise schließt dieser Film an „Manchester by the Sea“ an (siehe Filmkritik von letzter Woche). In beiden Filmen geht es um verkorkste Familienbeziehungen und um erzwungene Nähe zwischen Familienmitgliedern, die nicht notwendigerweise in innige Liebe und Friede, Freude, Eierkuchen umschlägt. Aber „Toni Erdmann“ ist der Film mit dem weit absurderen und schrägeren Humor. Wann hat man so verrückte Szenen zuletzt im deutschen Kino gesehen? Mir fällt da nur der Klassiker „Männer“ ein, und das ist schon eine Weile her (1985, um genau zu sein). Da wird man schon etwas nachdenklich bei dem Gedanken, dass „Toni Erdmann“ im Ausland deshalb so begeistert hat und nun für den Oskar nominiert ist, weil man nicht mit einem humorvoll-selbstironischen Film aus Deutschland rechnet. Stecken wir Deutschen immer noch so in der Klischee-Schublade, dass man uns nichts Lustiges zutraut?
Dabei dauert es eine ganze Weile, bis der Film richtig lustig wird. Am Anfang sehen wir nur einen Vater, den pensionierten Musiklehrer Winfried Conradi, der nach dem Tod seines Hundes spontan nach Bukarest fliegt, um seine Tochter zu besuchen. Leider geht das zunächst gnadenlos in die Hose. Winfried versäumt leider, seinen Besuch anzukündigen, seine Tochter steckt als erfolgreiche, knallharte Unternehmensberaterin gerade in einem superwichtigen Projekt und das beste Verhältnis hatten die beiden sowieso nie. Zunächst einmal ist Winfried seiner Tochter nur peinlich. Sie fühlt sich geradezu gestalkt von ihm, und als sich der Vater ziemlich schnell wieder verabschiedet, nötigt Ines ihn nicht, länger zu bleiben. Doch Winfried hat sich in den Kopf gesetzt, seiner Tochter näherzukommen – und dafür ist ihm jedes Mittel recht: Er setzt sich eine alberne, zottelige Perücke auf den Kopf, stopft sich ein paar Dracula-Zähne in den Mund und spielt ab sofort den Coach Toni Erdmann. Mit Hilfe dieser Schein-Identität gelingt es Winfried, seiner Tochter in den absurdesten Situationen nahe zu sein. Am allerseltsamsten aber ist, dass Toni von allen gemocht wird, auch wenn sie sein schräges Spiel durchschauen. Und auch Ines gewährt ihrem verrückten Vater immer mehr Zugang zu ihrer verkorksten Welt aus Geld, Erfolg, Abwicklung von Arbeitskräften, Drinks, wilden Parties und Drogen. Wie auch in Manchester by the Sea führt das alles zwar zu einer Serie immer abstruserer Situationen, aber die Annäherung von Vater und Tochter gelingt nur bedingt. Winfried macht sich nicht gerade beliebt dadurch, dass er den freudlosen Lebensstil der Tochter in Frage stellt. Und doch: es gibt ein paar Momente, da kann Ines anerkennen, dass der Vater ja eigentlich nur ihre Nähe sucht, und sich sogar darüber freuen. Mein persönlicher Höhepunkt: Ines singt auf Wunsch ihres Vaters bei einem rumänischen Familienfest Whitney Houstons „The greatest love of all“, der Vater begleitet sie am Klavier. Ziemlich laut singt Ines, ziemlich falsch, und doch mit Inbrunst und ohne Scham. Für ein paar Augenblicke wenigstens lässt sie sich fallen und kann sich auf die Verrücktheiten ihres Vaters einlassen. Das ist eine großartige Schauspielleistung der insgesamt sehr überzeugend schmallippigen Sandra Hüller und dem wunderbar zottelig-trotteligen Peter Simonischek. Schauen wir mal, was die Oskars bringen und ob es tatsächlich ein amerikanisches Remake mit Jack Nicholson gibt. Auch, wenn dieses völlig unnötig ist, könnte ich mir Nicholson nach seiner Rolle in „About Schmidt“ sehr gut als Tony Earthman vorstellen.
P.S. Vielen Dank allen Besucherinnen und Besuchern, die die Lesungen in Herrenberg, Leonberg und Münsingen so vergnüglich gemacht haben! Am kommenden Freitag Lesung in Beilstein mit Musik von Susanne Schempp!
http://www.e-kabatek.de/termine/default.htm
Susanne startet nach Honey Pie eine neue Karriere als Gospelsängerin (was heißt hier neu, das macht sie schon ihr ganzes Leben!) Mehr unter http://gospelsaengerin-stuttgart.de/index.php
P.P.S. Wer Lust hat, Corinna und Thorsten Junker im Fernsehen zu sehen, das sind die beiden Figuren in „Kleine Verbrechen erhalten die Freundschaft“, die es tatsächlich gibt, am 17.2. gibt es um 20.15 Uhr im NDR einen Bericht über sie und andere Hooge-Bewohner, sicher hinterher auch in der Mediathek!
P.P.P. S. Ein sehr vergnügliches englisches Monty Python-Video
Ähnlich skurrilen Humor finde ich in „Das brandneue Testament“ (von letztem Jahr) und in „Die Blumen von gestern“ (brandneu) – und außerdem so wunderbar un-us-amerikanisch, wie Toni Erdmann.