Meine Mutter besaß eine Langspielplatte mit den Songs von Mary Poppins im englischen Original. „Spoonful of sugar“ oder „Chim-chimny“ hörte ich als Kind rauf und runter – und liebte es. Und dann noch der fabelhafte Film, herausragend besetzt mit Julie Andrews als Mary Poppins und Dick van Dyke als Bert. Außerdem las ich als Kind sämtliche Mary-Poppins-Bücher der australischen Autorin P.L. Travers, von denen es insgesamt vier Bände gibt (in den Büchern ärgerte es mich übrigens immer, dass Mary Poppins am Ende eines Abenteuers abstritt, dass es jemals passiert war). Wenn die Latte so hoch liegt, kann dann das Musical „Mary Poppins“ im SI-Centrum in Stuttgart-Möhringen mithalten, noch dazu, wenn die Songs auf Deutsch gesungen werden?
Kurz und knapp: es kann. Mary Poppins ist eine fabelhaft besetzte, bunte, fröhliche Show, die einen magisch in den Sog zieht wie in Berts Straßenmalereien. Ein liebevolles, mit reichlich Details ausgestattetes Bühnenbild, das in Sekundenschnelle wechselt, tolle Kostüme, zwei umwerfende Kinderdarsteller als Jane und Michael, und natürlich, ganz wichtig, zwei absolut überzeugende Hauptdarsteller in den Rollen von Mary Poppins und Bert. Dazu noch einige wirklich atemberaubende Effekte – Herz, was willst du mehr, um einen Abend das Elend der Welt zu vergessen? Nicht zuletzt erzählt die Geschichte schließlich den Sieg der Phantasie und der Lebensfreude über die Disziplin von Vater George Banks, dessen geordnetes Leben als Bankangestellter und sein mit strenger Hand geführter Haushalt mit der Ankunft von Mary Poppins komplett durcheinandergewirbelt wird. Das Leben als anarchisches Abenteuer zu begreifen, in dem Nächstenliebe und Menschlichkeit wichtiger sind als Autorität und die Gier des Kapitalismus, das ist die erstaunliche Botschaft dieses Musicals, das einen Hauch von Broadway nach Möhringen trägt.
Mary Poppins und Gauthier Dance zu vergleichen ist zugegebenermaßen ziemlich absurd. Einerseits. Es ist dann nicht mehr absurd, wenn man im ach so kommerziellen Musical einen deutlich vergnüglicheren Abend verbringt als bei Gauthier, der vor zehn Jahren als verrückte, experimentelle Außenseitertruppe gestartet ist, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Menschen für den Tanz zu begeistern, die im Opernhaus nicht ankommen. Das ist ihm hundertprozentig gelungen. Der Meister selbst erzählt zu Beginn des Abends die Geschichte, wie seine Kompagnie vor zehn Jahren entstand, als er das Stuttgarter Ballett verließ, um im Theaterhaus auf dem Pragsattel seine eigene Truppe aufzumachen. Wie immer wickelt Eric Gauthier sein Publikum mit seinem unschlagbaren Charme, seinem lustigen Akzent und der Tatsache, dass er ständig „der“ und „die“ verwechselt, vor allem wenn es um Leute geht, um den Finger. Aber es ist dann nicht mehr witzig, wenn uns unser Everybody’s darling schon vor der Vorstellung erklärt, dass es bisher immer standing ovations nach der Show gab, und das wünsche man sich ganz dolle weiterhin und insbesondere an diesem Abend. Das ist peinlich. Das hat er auch gar nicht nötig, unser Eric. Schließlich wird Gauthier Dance genug gehypt und wahrscheinlich waren 99 Prozent der Besucher vom Jubiläums-Abend begeistert. Ob es zu standing ovations gereicht hätte, sei dahingestellt. Aber pflichtschuldigst springt das Publikum am Schluss auf. Da wird es einem doch ein wenig mulmig, wie leicht man Menschen manipulieren kann. Das Programm selber ist auch nicht besonders prickelnd. Nicht, weil es schlecht wäre, natürlich ist es schön und fabelhaft getanzt. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man das gleiche Programm – Nacho Duato, Itzik Galili etc – genauso als Tanzabend im Kleinen Haus hätte sehen können. Es ist auf beunruhigende Weise konventionell. Was also unterscheidet Gauthier nach zehn Jahren von seinem früheren Arbeitgeber, außer, dass er an einem anderen Ort auftritt? Wirklich packend ist an diesem Abend eigentlich nur „Streams“ des Griechen Andonis Foniadakis, ein Stück, das alle 16 Tänzer in einer atemberaubend schnellen Choreographie, einem wilden Gewusel in ständig wechselnden Besetzungen, auf der Bühne vereint. Einst hat Gauthier mit nur sechs Tänzern („Sixpack“) begonnen.
Am Dienstag hat die Stage Entertainment übrigens verlautbart, dass Mary Poppins 2018 Stuttgart schon wieder verlässt. Gauthier bleibt uns sicher noch länger erhalten. Klar, die Tickets für Gauthier sind deutlich billiger. Sie sind aber sehr viel teurer als früher und kosten jetzt zwischen 55 und 23 Euro. Deshalb vielleicht lieber ein bisschen mehr bezahlen und für drei Stunden komplett abtauchen in den Mary-Poppins-Bühnenspaß, Kommerz hin oder her. Und natürlich ist klar: Hie wie dort arbeiten hochprofessionelle Künstlerinnen und Künstler, die Besten ihres Metiers, an deren Leistung es nichts zu kritteln gibt. Aber bei Mary Poppins gab es die standing ovations ganz ohne Vorankündigung.
P.S. am 23. Mai Lesung im „Haus der Architekten“ in Stuttgart zum 150. Jubiläum der Buchhandlung Wittwer!
P.P.S. Einen Besuch wert ist „Harry’s“, eine Kaffeerösterei in der Eberhardstraße 10 in Stuttgart-Mitte. 50 Sorten Kaffee (bio) aus Hochlagen, Schokolade, Feinkost, Kaffeezubehör und Cafébar. Schön für eine kleine Kaffeepause zwischendurch.