Gesehen: Andorra (Theater der Altstadt)

Seit ich denken kann, gehört der Schweizer Schriftsteller Max Frisch zu meinen Lieblingsautoren, vor allem sein Roman „Homo faber“. Dass er, wie kürzlich enthüllt, seine Geliebte Ingeborg Bachmann beinahe in den Selbstmord getrieben hat, hat meiner Bewunderung zugegebenermaßen einen ziemlichen Dämpfer versetzt, ändert aber nichts an der Qualität seines Theaterstücks „Andorra“, das im Augenblick im Stuttgarter Theater der Altstadt gezeigt wird. Das haben sicher viele von uns in der Schule gelesen und denken jetzt, kalter Kaffee.

Von wegen. Andorra wurde im November 1961 in Zürich uraufgeführt – und ist brandaktueller denn je.Frisch erzählt die Geschichte des Jungen Andri, der als Pflegekind von einem Lehrer aufgezogen worden ist. Andri ist Jude, so hat es der Vater immer behauptet. Und so wächst Andri in dem Bewusstsein auf, anders zu sein. In seiner Heimat Andorra (das nichts mit dem Staat Andorra zu tun hat) leidet er zunehmend unter Ausgrenzung und rassistischen Anfeindungen. Als er seine Schwester Barblin heiraten will, die ja theoretisch nicht wirklich seine Schwester ist, eskaliert die Situation. Vom Pfarrer erfährt Andri, dass er gar kein Jude ist. Barblin ist in Wirklichkeit seine Halbschwester, denn sein angeblicher Pflegevater ist sein richtiger Vater, der nicht zu seinem unehelichen Kind stehen wollte. Aber Andri hat sich schon in seine Rolle und sein Schicksal ergeben, und auch die Andorraner interessieren sich nicht wirklich für die Wahrheit: Andri wird gelyncht, und Barblin verfällt dem Wahnsinn.
Alltäglicher, oft subtiler Rassismus der ach so braven Bürger, „Fake News“, darum geht es in Andorra. Da wird einer zum Opfer für etwas, was gar nicht stimmt. In Berlin hat ein syrischer Flüchtling gegen Facebook geklagt, weil er verleumdet wurde. Es wurde zum Beispiel behauptet, er habe einen Obdachlosen angezündet, oder er sei am Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt beteiligt gewesen. Anas M. ist mit seiner Klage gegen Facebook ebenso gescheitert wie Andri in Andorra. Immer wieder treten in dem Drama einzelne Figuren nach vorne und beteuern ihre Unschuld. Da ist was schiefgelaufen, okay, aber es waren die anderen. Der Pastor, der Wirt, der Soldat, sie alle sehen sich als Opfer, keinesfalls als Täter, nicht einmal als Mitläufer. Und wie Andri sich in sein Schicksal ergibt, das hat schon beinahe etwas Messianisches. Die Inszenierung im Theater der Altstadt arbeitet mit einfachen Mitteln – mit einer riesigen gelben Tür in der Mitte der Bühne und mit beweglichen gelben Sofaelementen, die je nach Anforderung zusammengeschoben, aufeinander- und umgestellt werden. Das ist absolut ausreichend. Eine Inszenierung, bei der es einem immer wieder eiskalt den Rücken hinunterläuft. Der Originaltext von 1961 ist an keiner Stelle aktualisiert worden. Das ist auch überhaupt nicht nötig. Unbedingt sehenswert! (Weitere Vorstellungen Do, Fr, Sa, Tickets unter http://www.theater-der-altstadt.de)

Und gleich noch ein Theatertipp: Die Stuttgarter Theatergruppe Lokstoff, die vor Jahren als eine der ersten freien Gruppen den öffentlichen Raum zum Spielort machte, zeigt in einem Schiffscontainer auf dem Parkplatz vorm Theaterhaus Stuttgart das Stück „Pass.worte. Wie Belal nach Deutschland kam“ (nächster Termin 16./17.6., http://www.lokstoff.com). Ich selber habe das Stück im Hof des Klett-Verlags im Rahmen einer Schulvorstellung gesehen. Auch dort steht ein Container. 45 Schülerinnen und Schüler der elften Klasse lauschen dort mucksmäuschenstill einer fingierten Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Der junge Belal, unterstützt von einem Dolmetscher, soll dem BAMF von seiner Flucht aus Afghanistan berichten. Diese (wahre) Geschichte erzählt von dem unsagbarem Leid, das Flüchtlinge auf ihrem monatelangen Weg erdulden müssen, von der Skrupellosigkeit der Schlepper, der permanenten Ungewissheit, wie und wann es weitergeht, von Dreck, Hunger, Folter und Gefängnis. „Das Einzige, was du hast, ist Angst“, heißt es da. Am Anfang geht es natürlich um die Situation in Afghanistan und die grausame Diktatur der Taliban. Unfassbar, dass Afghanistan als sicher gilt und Flüchtlinge dorthin abgeschoben werden. Realität und Fiktion sind in diesem mit wenigen dramaturgischen Mitteln inszenierten Stück nicht auseinanderzuhalten. Keine einfache Kost, auch nicht für eine elfte Klasse. 8400 Schülerinnen und Schüler hat Lokstoff mit dem Stück bisher erreicht.

P.S. Nächste Woche steigt die große Wittwer-Jubiläumslesung im Haus der Architekten (23.5.)! Beginn 19.30 Uhr (mit Maultaschen & Kartoffelsalat!)
P.P.S. Demis Volpi („Krabat“, „Salomé“) ist ab Herbst nicht mehr Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, wie Andrea Kachelrieß gestern in der Stuttgarter Zeitung berichtete. Mich hat das nicht wirklich gewundert. „Krabat“ war großartig, „Salomé“ hat überhaupt nicht überzeugt und Volpis Beitrag zur Britten-Oper „Der Tod in Venedig“ auch nicht – da hüpft David Moore als goldglänzender Apollon doch ein wenig unmotiviert über die Bühne.

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