Am Donnerstag wird in Großbritannien gewählt. Das mag uns seltsam erscheinen, aber in Großbritannien wird traditionell immer donnerstags und nicht sonntags gewählt.
Die Wahllokale sind bis 22 Uhr geöffnet, und Hochrechnungen wie bei uns gibt es nicht, das Ergebnis wird also wohl erst am nächsten Tag feststehen. Große Überraschungen sind jedoch nicht zu erwarten, die konservative Teresa May wird die Wahlen gewinnen. Die Frage ist nur, ob Jeremy Corbyn von der Labour Party in dem kurzen, wegen der Terroranschläge mehrfach unterbrochenen Wahlkampf Boden gutmachen konnte. Teresa May hat nicht das geringste Charisma, und das weiß sie auch. Wahlkampf und öffentliche Auftritte sind nicht ihr Ding, sie hat ein TV-Duell mit ihren Gegnern abgelehnt und sich nur alleine vor Fernsehkameras interviewen lassen. Das kommt bei den Wählern nicht gut an. Außerdem steht sie nach den Anschlägen in der Kritik, weil sie am Abbau des Polizeiapparates beteiligt war. Jeremy Corbyn ist dagegen ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer, der gut und mitreißend sprechen kann und sich deutlich volksnaher gibt. Seit dem Brexit-Referendum vor einem knappen Jahr war er als Parteichef jedoch heftig umstritten und entging mehrfach nur haarscharf seinem erzwungenen Rücktritt. Doch auch wenn die Labourpartei mehr Stimmen gewinnt als noch vor zwei Wochen vorhergesagt, am Brexit wird das letztlich nichts ändern. Auch Jeremy Corbyn hat sich vor dem Referendum für einen Austritt aus der EU ausgesprochen und in den Wochen davor eine wahrhaft jämmerliche Figur abgegeben. Seine Ansichten mögen weniger radikal sein als die von Teresa May, aber die Parlamentswahl am Donnerstag, ein kluger Schachzug von Teresa May, wird nur dazu dienen, ihre Position zu festigen. Niemand kann dann mehr sagen, sie sei nur durch Zufall in ihr Amt gekommen und nicht von den Wählern legitimiert. Das Wahlsystem in Großbritannien gilt als schrecklich veraltet, da jede/r Wählerin nur eine einzige Stimme vergeben kann (wie man sich überhaupt wundern kann, dass es keine niedergeschriebene Verfassung und keinen Nationalfeiertag gibt). Es gilt das reine Mehrheitswahlrecht, sodass alle Stimmen für Kandidaten, die ihren Wahlkreis nicht gewinnen, verloren sind, eine Stimme für die Partei wie bei uns gibt es nicht. Im Vergleich zu dem Wust an Papier, den wir in Deutschland für die Bundestagswahl bekommen, wirkt ein britischer Wahlzettel geradezu lächerlich einfach und übersichtlich. Pro Wahlkreis gibt es nur einen Kandidaten/Partei, insgesamt nur vier Parteien, neben der Konservativen Partei und Labour sind das die Grünen und die Liberalen Demokraten. Das sieht dann so aus:
Innerhalb weniger Tage sind Manchester und London von brutalen Terrorattacken erschüttert worden. Aber die Briten, die ich manchmal gern kräftig in den Hintern dafür getreten hätte, dass sie nicht zu Hunderttausenden gegen den Brexit auf die Straße gegangen sind, bieten in ihrer stoischen Gelassenheit auch dem Terror die Stirn. Ein Mann, der mit einem Glas Bier in der Hand vor den Attentätern fliehend fotografiert wurde, wurde zum Symbol einer Stadt, die sich nicht unterkriegen lässt, und spöttisch wurde kommentiert, dass die Pint im Zentrum von London wahrscheinlich fünf, sechs Pfund gekostet hätte und deshalb viel zu teuer sei, um das Glas kampflos aufzugeben. In unzähligen Twitterbotschaften bewiesen die Briten schwarzen Humor. So lautete eine Nachricht, dass es in London am Sonntagmorgen nicht etwa wegen des Anschlags gespenstisch still sei, sondern weil die Londoner „halt gemütlich ausschlafen.“ Eine andere Twitternachricht lautete, „ich fahr jetzt zu IKEA zum Fleischbällchen essen und kauf mir einen Teppich.“ Business as usual, zumindest nach außen hin. Wie kann man den Terroristen besser die Stirn bieten?
Noch besser – mit Musik. Am letzten Sonntag scharte die erst 23jährige Ariana Grande, von der ich bis zur Terrorattacke in Manchester noch nie etwas gehört hatte, in der Manchester Arena Superstars wie Robbie Williams, Take That, Katy Perry, Coldplay und als Überraschungsgast Liam Gallagher von Oasis für „One Love Manchester“ um sich. In nur etwas mehr als einer Woche hatte Grande dieses Monster-Benefizkonzert organisiert. Ein hochemotionales Konzert vor 50.000 Fans in der Arena, und allein 11 Millionen Fernsehzuschauern auf BBC, das 10 Millionen Pfund für den „We love Manchester Emergency Fund“ erbrachte. Besondere Bedeutung hatte die Tatsache, dass sowohl Coldplay als auch Oasis echte Manchester Jungs sind. Wer die Chance hatte, das Konzert zu sehen, wird auch vor dem Fernseher von der unglaublichen Atmosphäre dort angesteckt worden sein, einer Mischung aus Trauer, Trotz, der reinen Freude am Feiern und der Musik, und der ganz klaren Botschaft, dass Hass nicht die Antwort auf Terror sein kann. Es fiel schwer, bei Arianas Grandes Solo „Over the rainbow“ am Ende des Konzerts, das sie nur unter Tränen und trotzdem stimmgewaltig zu Ende brachte, nicht vor dem Fernseher mitzuheulen angesichts der vollkommen sinnlosen Tode von zweiundzwanzig überwiegend jungen Menschen während ihres Konzerts vor gut zwei Wochen, und angesichts der vielen Opfer bei der Terrorattacke in London, nur einen Tag zuvor (ein Shitstorm war übrigens die Reaktion darauf, dass Noel Gallagher von Oasis „roséstrinkend auf einer Jacht vor der Amalfi-Küste“ gesichtet wurde, anstatt mit seinem Bruder Liam in Manchester aufzutreten).
(Wie es der Zufall so will, gab es vor fünf Minuten einen Regenbogen über Stuttgart…wenn das kein Zeichen ist!!!)
Wenig hilfreich erscheint die Reaktion von Teresa May letzten Sonntag vor Downing Street, 10. „Enough is enough“, genug ist genug. Da präsentierte sie sich als Eiserne Lady, die scheinbar dem Terror die Stirn bot und en passant alle Muslime unter Generalverdacht stellte. Als ob es realistisch wäre, Anschläge wie diese in irgendeinem europäischen Land zu verhindern! Weitaus mehr beeindruckte da der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, der selber Muslim ist: „As a proud and patriotic British Muslim I say this: you do not commit these disgusting acts in my name“ – als stolzer und patriotischer Muslim sage ich dies: ihr begeht diese abscheulichen Taten nicht in meinem Namen.
Noch einer hat sich zum Thema Gewalt zu Wort gemeldet, noch vor den Anschlägen in London. Brandon Cox ist der Witwer von Jo Cox, der Abgeordneten, die vor einem Jahr von einem fanatischen Briten auf offener Straße ermordet wurde. „Britain first“, Großbritannien zuerst, brüllte er, bevor er die liberale, für Menschenrechte und Europa kämpfende Jo erstach. In einem bewegenden Interview mit der Zeitung Guardian letzten Samstag beschwor Brandon Liebe, soziales Miteinander und Engagement für eine bessere Welt statt Rache, Hass und Ausgrenzung. Der Brexit wird es allen Beteiligten nicht unbedingt leichter machen. Auf dem Flughafen in Manchester belauschte ich heute beim Kaffee eine Französin, einen Franzosen und eine Spanierin. Die saßen zufällig nebeneinander und kamen darauf, dass sie alle drei ERASMUS-Stipendiaten auf dem Weg nach Hause waren, die beiden Franzosen waren in Sheffield, die Spanierin in Chester gewesen. Alle drei konnten nicht genug davon schwärmen, was für eine wundervolle Zeit sie in England verbracht hatten, wieviele Freunde sie gefunden und wieviel sie in diesen Monaten über die britische Kultur gelernt hatten. Damit wird es mit dem Brexit vorbei sein: ERASMUS ist ein EU-Programm.
PS Ein wirklich super Rezept für englische Scones gibt es bei https://www.geschenke-selbst-gemacht.de/Rezepte-Co/Scones-Rezept.html
PPS Wer bisher die Lesungen zu „Kleine Verbrechen erhalten die Freundschaft“ verpasst hat, hat vor den Ferien noch zwei Gelegenheiten: 27. Juni in Stuttgart-Vaihingen und am 30. Juni in Weissach! Beide Lesungen mit Musik!