Festwoche A Reid Anderson Celebration: Mit Onegin auf die Zielgerade

Im siebten Ballettblog gibt es ein Happy-End hinter dem Vorhang!

Wir sind auf der Zielgeraden. Der Countdown läuft! Noch drei Abende. Drei, zwei, eins: Drei, Onegin, zwei, Gala der John-Cranko-Schule und Ballett im Park, eins, Gala des Stuttgarter Balletts, viele Tränen und Ballett im Park. Dass auf Platz drei des Finales ein Cranko-Handlungsballett stehen musste: Keine Frage. Aber warum ausgerechnet Onegin? Ganz einfach: Es ist eines der Lieblingsballette, wenn nicht gar das absolute Lieblingsballett des scheidenden Intendanten. Er hat es zudem nicht nur selbst getanzt, sondern während der letzten 25 Jahre weltweit einstudiert. Im Programmheft zur Festwoche – übrigens ein absolutes Muss für jeden Ballettfan! – steht ein ganz wunderbares Zitat. Als Reid Anderson 1969 als Ballettabsolvent aus London nach Stuttgart kam, sah er das erste Mal Onegin auf der Bühne: „Das war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Ich habe geweint, weil ich in so einer Compagnie gelandet war, wo die Leute so tanzen können.“ Reid Anderson selbst tanzte zunächst den Fürsten Gremin, obwohl der eigentlich altersmäßig nicht so recht zu ihm passte, und dann die Titelrolle. Das Programmheft zeigt einen wunderbar blasierten Onegin mit sehr starken Koteletten und dicken Augenbrauen, und dahinter eine vollkommen entsetzt-verzweifelte Marcia Haydée als Tatjana – was für ein Bild! Was für ein Schnösel! Einfach großartig.

Nicht zuletzt spielt Onegin auch in der Geschichte des Stuttgart Balletts eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle: Beim Gastspiel in New York 1969 brachte das Stück den entscheidenden Durchbruch für das Stuttgarter Ballett. Ein Wunder geschah, das Ballettwunder, und es hält bis heute an! Am 22. Juli, bei der Festwoche „20 Jahre Intendanz Reid Anderson“ gab Sue Jin Kang ihren Abschied mit Onegin. Was war das für ein Abend, als das ganze Opernhaus Herzen in die Luft hielt: Danke, Sue Jin! Ich habe das kleine Plakat noch heute. Ihr Partner damals: Jason Reilly. Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen – denn wer tanzt heute Abend Andersons Abschieds-Onegin? Natürlich Jason Reilly, nach seiner kurzen Verletzungspause in Topform. Seine Partnerin heute: Hyo-Jung Kang, die vor zwei Jahren die Olga tanzte!

Es geht los. Hach, wie wunderbar gibt Jason Reilly den arroganten Onegin! Wie er über die Bühne schreitet, mit diesem verächtlichen Mir-kann-keiner-was-Blick! Man möchte ihm ihn den Hintern treten, als er den Liebesbrief Tatjanas vor ihren Augen zerreißt und ihr die Papierschnipsel verächtlich in die Hand drückt. Was für eine große Kunst beherrschte Cranko, eine Geschichte zu erzählen, ohne dass man eine Inhaltsangabe braucht! Auf der ganzen Welt wird jede/r, der/die schon einmal unglücklich verliebt war – und ich wage zu behaupten, dass ein Großteil der Weltbevölkerung diese Erfahrung schon einmal gemacht hat – ohne Worte begreifen, wie verletzend sich dieser Onegin von Anfang an benimmt. Tatjana schmachtet ihn an, aber Onegin nimmt sie zerstreut nur am Rande wahr und widmet sich stattdessen ganz seinem eigenen Weltschmerz und seiner Melancholie. Man könnte auch sagen, der Typ ist auf einem gnadenlosen Ego-Trip. Mit ihren großen Augen und ihren zarten Gesichtszügen passt Hyo-Jung Kang ganz wunderbar in die Rolle der sensiblen Tatjana, die ihr Herz ausgerechnet leider an den völlig Falschen verliert. Das Kontrastprogramm bieten die extrovertierte Olga, federleicht getanzt von Elisa Badenes, und ihr Verlobter Lenski, getanzt von David Moore. Die beiden haben in den vergangenen Tagen nahezu jeden Abend auf der Bühne gestanden, immer zauberhaft, immer perfekt, ein wunderschönes Paar – was für ein Mammutprogramm!

Höhepunkt des I. Aktes: Der Pas de deux von Tatjana und Onegin in Tatjanas Schlafzimmer. Wie tragisch, dass die einzige wirkliche Liebesszene zwischen Tatjana und Onegin nur eine geträumte ist! Jason und Hyo-Jung tanzen das so großartig, dass die Augen förmlich an ihnen festkleben, damit man nur ja keine Sekunde verpasst. Ehrlich gesagt habe ich mich immer gefragt, wie die Spiegelszene eigentlich funktioniert. Sie wissen schon, Tatjana erblickt erst ihr eigenes Spiegelbild, dann erscheint ihr Onegin im Spiegel, schreitet durch das Glas und tanzt mit ihr. Heute Abend habe ich dann aus sicherer Quelle erfahren, dass es keinen Spiegel gibt. Auf der anderen Seite des nicht vorhandenen Glases tanzt eine zweite Tänzerin. Wahrscheinlich war das allen Zuschauern außer mir längst klar (aber ich kapiere auch nie, wie Zaubertricks funktionieren).

In der ersten Pause signiert der Intendant persönlich. Die Schlange ist lang. „I’m a people person“, hat er am Mittwoch vor der Vorstellung von Party Pieces gesagt, ich kann gut mit Leuten, und genau so ist es. Hier ist keiner, der sich abschottet, hier ist einer, der gern mit den Zuschauern quatscht, der alle gleichbehandelt, geduldig signiert. Zwei Besucherinnen, die Reid Anderson noch als Tänzer gesehen haben, diskutieren darüber, in welcher Rolle er ihnen damals am besten gefallen hat. Sie einigen sich auf den Vater in Die Kameliendame und William Forsythes Orpheus. Die Dame mit den Dackeln, die aus Berlin, ist übrigens auch wieder da. Ich habe sie vor zwei Jahren bei der Festwoche kennengelernt. Damals hatte sie drei Dackel, jetzt vier. Die bleiben brav und ganz leise im Hotel, erzählt sie mir, während sie die ganze Festwoche abends ins Ballett geht; Liebe zu Dackeln und Liebe zum Ballett, das muss sich nicht gegenseitig ausschließen. Sehr hübsch ist auch der Kommentar einer Besucherin auf der Terrasse in der zweiten Pause. „Jetzt isch der au he“, kommentiert sie Lenskis tragischen Duell-Tod. Für alle, die des Schwäbischen nicht mächtig sind: „Jetzt ist der auch tot.“ Ja, der schwäbische Dialekt verfügt über erstaunliche Fähigkeiten, wenn es darum geht, den Tatsachen ins Auge zu sehen und grausame Fakten in nüchterne Worte zu fassen. Übrigens ist der Prozentsatz an eleganten Kleidern an diesem Abend im Vergleich zu den letzten Tagen deutlich nach oben gegangen. Da sich am Sonntag Ballett-, Politik- und Kulturprominenz die Ehre geben wird, darf man gespannt sein, was dann klamottentechnisch alles geboten wird. Solider Schick, vermutlich. Wir sind ja nicht so extrovertiert wie die Münchner. Ich werde berichten.

Aber nun naht das Ende. Kann es einen tragischeren Schluss geben für ein Stück als den von Onegin? Nun liegt er ihr zu Füßen, verzweifelt um ihre Liebe bettelnd, nun könnten die beiden zusammenfinden, endlich! Sie lieben sich doch! Aber Tatjana weist Onegin zurück, freilich erst nach einem grausamen Kampf mit sich selbst und mit Onegin. Wie Hyo-Jung Kang und Jason Reilly diesen Kampf miteinander ausfechten, wie sie miteinander ringen und leiden und zwischendurch winzige Momente des Glücks erleben, bis zum bitteren Ende, bis sie ihm die Tür weist, das ist ganz, ganz großes Kino. Der Applaus erklärt sich von selbst.

Hinter der Bühne herrscht Tohuwabohu. Auf der Hauptbühne wird in Windeseile ab- und umgebaut, auf der Seitenbühne steht das komplette Ballett versammelt und verabschiedet die, die das Stuttgarter Ballett mit dem Ende der Spielzeit verlassen: Elena Bushuyeva, Katarzyna Kozielska und Daniela Lanzetti, alle drei Halbsolistinnen; Kirill Kornilov und Ludovico Pace vom Corps de ballet sowie der Ballettmeister Thierry Michel. Alle sind sichtlich bewegt, es werden Reden gehalten, und es fließen Tränen. Nicht der beste Moment für ein Interview, zumal Hyo-Jung Kang und Jason Reilly von allen Seiten beglückwünscht werden. Wie fühlen sie sich?

„Ich bin fix und fertig“, meint Jason Reilly, und dabei lacht er so, dass man ihm das kaum glauben kann. Am vergangenen Sonntag hat Reid Anderson Jason Reilly und Eric Gauthier als seine „beiden Lausbuben“ bezeichnet, und man kann sich vorstellen, warum. „Ich habe immer noch einen Kloß im Hals“, sagt Hyo-Jung. „Da ist noch ein totales Gefühlsdurcheinander.“
„Wie fühlt sich das an, wenn der Vorhang aufgeht, und die Leute da draußen toben?“
Die beiden schauen mich an, ehrlich überrascht.
„Wir kriegen das am Anfang gar nicht mit“, meint Jason. „Wir sind da noch komplett mit uns selber beschäftigt.“
Hyo-Jung nickt. „Wir gehen ja zwei Stunden komplett in die Rolle rein. Und wenn sich dann der Vorhang schließt und Jason kommt wieder auf die Bühne und wir umarmen uns, das ist ein ganz besonderer Augenblick, nach dieser emotionalen Achterbahn.“
„Der beste des Abends!“, lacht Jason. „Es ist vorbei! Nein, natürlich ist es nicht der beste Moment des Abends. Aber es ist ein sehr, sehr schöner Moment. Wir haben in letzter Zeit einige Sachen miteinander getanzt, wir kennen uns jetzt gut. Wir tanzen diese Geschichte, als wäre sie unsere, und dass wir dann ganz am Ende auf der Bühne zusammenfinden, nachdem sie mich rausgeschmissen hat, das ist wie…“
„Wie ein Happy-End?“
„Ja, genau.“
Wie schön! Noch einmal für alle zum Mitschreiben: Onegin endet nicht tragisch. Er und Tatjana finden doch noch zusammen! Leider erst, nachdem der Vorhang gefallen ist.
„Waren Sie sehr nervös, heute, an so einem besonderen Abend?“
„Ach was“, antwortet Jason grinsend. „Diese Woche tanzen wir so wahnsinnig viel, das ist eher so, ach, was ist heute nochmal dran? Und dann raus auf die Bühne und los. Nein, im Ernst, die Nervosität hilft eigentlich, sie macht einen wacher.“
„Kurz bevor der Vorhang aufgeht, das ist ziemlich schrecklich“, meint Hyo-Jung. „Danach geht’s.“
Und was werden die beiden an Reid Anderson vermissen?
„Just him“, sagt Jason, plötzlich ganz ernst. „Ihn, eben. Ich kenne ihn, seit ich neun Jahre alt bin, ich tanze seit 21 Jahren hier in Stuttgart. Ich habe die Befürchtung, dass ich ab und zu an seine Bürotür klopfe, um mit ihm zu plaudern, und er ist nicht mehr da, und ich habe es vergessen.“ Und Hyo-Jung ergänzt: „Er war immer wie ein Stützpfeiler. Ein sehr solider Stützpfeiler.“

Nun wollen die beiden nach dieser Höchstleistung aber endlich ihre scheidenden Kolleginnen und Kollegen verabschieden. „It’s party time!“, hat Reid Anderson schon vor zehn Minuten ausgerufen. Und heute Abend ist das kleine Finale mit der Gala der John-Cranko-Schule und Ballett im Park!

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