Hurra, man kann in Stuttgart wieder ins Schauspiel gehen! Vorbei die Zeiten, da man fürchten musste, von Intendant Armin Petras stundenlang in pseudo-bedeutungsschwangeren Literaturadaptionen im Kleinen Haus festgehalten zu werden.
Wobei, das muss man ja fairerweise sagen, nicht alles schlecht war unter Petras. „Der zerbrochene Krug“ beispielsweise mit einem fulminanten Edgar Selge, der in der Eröffnungsszene erst einmal splitterfasernackt durchs Foyer sprang, ohne das es im Mindesten peinlich, sondern einfach nur saumäßig lustig war. Oder die „Szenen einer Ehe“ mit Astrid Meyerfeldt und Joachim Król.
Nun aber: Burkhard C. Kosminski. Und gleich wird klar, dass hier Theater gespielt wird, das sich nicht nur um sich selber dreht, sondern etwas sagen will und zu sagen hat. Am Eindrucksvollsten: „Vögel“ von Wajdi Mouawad. Ein Stück in deutscher, hebräischer, arabischer und englischer Sprache mit deutschen Übertiteln, inszeniert vom Intendanten selbst. Es wird 2019 noch einige Male gespielt, und wenn Sie in der Nähe von Stuttgart wohnen, oder auch nicht, und nur ein Stück anschauen wollen, dann wählen Sie dieses. Ein erholsamer Theaterabend ist das nicht. Fast vier Stunden lang geht es da um eine jüdische Familie. Eitan verliebt sich in Wahida, aber Wahida ist Araberin – unvorstellbar für den streng orthodoxen Vater. Eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte nimmt dann ihren Lauf, in der es vor allem um ein Thema geht: Woher kommt unsere Identität? Von unseren Genen, unserer Geburt, unserer Prägung, unserer Religion? Eitan reist mit Wahida nach Israel, und nun bricht der Nahost-Konflikt mit voller Wucht in das Leben der beiden. Das Private wird politisch, es geht nun um den Krieg zwischen Israelis und Palästinensern, aber eben nicht nur. Es geht auch um ein Familiengeheimnis, dessen Enthüllung letztlich zu einer Tragödie führt: Der privaten Tragödie als Teil der politischen.
Das Stück ist anstrengend, ja. Auch wegen der vielen unterschiedlichen Sprachen. Seltsamerweise fällt einem nach einer Weile gar nicht mehr auf, dass das Stück von einem sehr internationalen Ensemble, drei Schauspieler kommen aus Israel, in vier Sprachen gespielt wird. Es gibt dem Stück Authentizität, und natürlich geht es auch hier um Frage der Identität, wenn Eitans Vater (großartig: Itay Tiran) darauf besteht, dass Eitan mit ihm Hebräisch und eben nicht Deutsch spricht. Anstrengend ist aber auch, dass so viele Geschichten gleichzeitig erzählt und verhandelt werden, Geschichten aus der Vergangenheit und Geschichten aus der Gegenwart. Vielleicht hätte dem Stück etwas mehr Straffung gutgetan. Aber man geht einerseits sehr erschöpft, andererseits sehr bewegt hinaus in den Abend, eben weil hier so viele unterschiedliche Themen verhandelt werden, und das wirkt lange nach. Hingehen!
Um Sprachen, wenn auch auf ganz andere Weise, geht es auch bei Theresia Walser und „Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel“ (das bezieht sich auf ein Gedicht von Gaddafi), ein Stück, das Kosminski aus Mannheim mitgebracht hat, seiner letzten Theater-Station. Da treffen sich drei abgehalfterte Diktatorinnen-Gattinnen zu einem fiktiven Gespräch: Margot Hohnecker, Imelda Marcos und mit Frau Leila eine Mischung aus Leila Ben-Ali, Suzanne Mubarak und Asma Assad. „Frau Margot“ versteht die beiden anderen nicht, obwohl alle drei fürs Publikum Deutsch sprechen, und benötigt einen Dolmetscher. Allein, der dolmetscht zur Erheiterung des Publikums nicht wirklich immer das, was die drei Frauen sagen, und sorgt so für Chaos und Verwirrung. Das ist sehr lustig. Natürlich sind alle drei der Meinung, dass Diktatur etwas ganz Großartiges ist, schließlich hat man immer nur das Beste fürs Volk gewollt, und natürlich sind alle drei schrecklich eitel. Die Dialoge knallen nur so in dieser bitterbösen Komödie, die beweist, dass man sehr ernste Dinge auf sehr intelligente Weise ins Lächerliche ziehen kann, ohne dass dabei der Ernst verloren geht. Es gibt dann zwar einen sehr grotesken Schluss, trotzdem hat mir persönlich in diesem Stück ein bisschen die Handlung oder ein Höhepunkt gefehlt.
Das letzte Stück: Orestie. Eine antike Tragödie, in der am Ende alle tot sind, in einer Neubearbeitung von Robert Icke. Auch hier geht es ums Private und Politische: Kriegsherr Agamemnon will nach Troja in den Krieg segeln, allein, es herrscht Flaute. Sein Kind soll er opfern, damit die Winde wehen. Das tut er, und ruiniert damit seine komplette Familie. Eine Familie, die sehr im hier und jetzt verankert ist, und in der es auch durchaus komische Szenen gibt, wenn der Papa beim Abendessen fragt, was denn die lieben Kinder tagsüber so gemacht haben, diese aber keine Lust haben, irgendwas zu erzählen. Dann aber nimmt die Tragödie ihren Lauf, es wird miteinander gerungen und sehr viel gemordet. Ganz großartig ist Sylvana Krappatsch in der Rolle der Klytämnestra. Leider wird das Drama im neuen Jahr nicht mehr gespielt.
Unter der neuen Intendanz gibt es übrigens regelmäßig kostenlose Einführungsmatinéen am Sonntagvormittag. Da werden die neuen Stücke vorgestellt, es gibt Ausschnitte zu sehen und Schauspieler und Regisseure stellen sich im Gespräch vor. Das macht wirklich Lust, sich die Stücke anschließend anzuschauen. Überhaupt gibt es zusätzlich zu den Theaterstücken unzählige Lesungen, Abende im Kammertheater und Gesprächsrunden. Ja, Kosminski legt ein unglaubliches Tempo vor. Langweilen muss sich im Stuttgarter Kulturleben wirklich niemand. Und schließlich gibt es auch noch Oper und Ballett, und und und… wir bleiben dran, auch im Neuen Jahr!
Allen Blogleserinnen und –lesern ein wunderbares Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr! Danke allen, die zu unseren Lesungen gekommen sind, Bücher gekauft haben, mitgemacht haben. Danke für alle netten Gespräche! Wer noch ein Weihnachtsgeschenk sucht, da bietet sich „Schätzle allein zu Haus“ doch geradezu an.
Bis im Neuen Jahr! Herzlich Ihre Elisabeth Kabatek