Gesehen. Der Gott des Gemetzels im Alten Schauspielhaus

Zwei Paare, vier Menschen, ein Konflikt, ein Abend, der ganz harmlos beginnt, und an dessen Ende alle vier bekennen, dass es der unglücklichste Tag ihres Lebens ist: Das ist „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza im Alten Schauspielhaus in Stuttgart.

Nach dem Abitur verbrachte ich sechs Monate als au-pair-Mädchen in Paris. Kurze Zusammenfassung: Paris war fantastisch, der au-pair-Job grauenhaft. Pseudo-intellektuelle, reiche Paare kümmerten sich hauptsächlich um ihren Beruf und ihr Aussehen (im Kühlschrank meiner Madame gab es ausschließlich Magerquark), ihre Kinder schienen sie nur zur Dekoration zu besitzen – weil Kinder eben dazugehörten, nicht, weil man großen Wert auf sie legte. Warmherziges Familienleben: Fehlanzeige. Ein männliches au-pair in meinem Bekanntenkreis fand sogar seine Madame nach einem (missglückten) Selbstmordversuch mit Tabletten vollgepumpt nackt auf dem Boden liegend, ihr Mann war der Besitzer eines sehr bekannten Luxusrestaurants. Daran musste ich jetzt denken, als ich im Alten Schauspielhaus in Stuttgart die fabelhafte Inszenierung von Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ sah.

Nicht, dass es für dieses Stück entscheidend ist, dass Yasmina Reza Pariserin ist, aber das neurotische Paris kam mir unweigerlich in den Sinn. Tatsächlich könnte diese Geschichte überall spielen – die Verfilmung von Roman Polanski aus dem Jahr 2011 spielt in New York – deshalb funktioniert sie auch im Alten Schauspielhaus so prächtig. Da treffen sich zwei Paare, die sich nicht kennen, um einen Konflikt zu klären. Ferdinand, Sohn von Annette und Alain, hat seinem Klassenkameraden Bruno auf dem Schulhof zwei Zähne ausgeschlagen, und nun hat man sich bei dessen Eltern Véronique und Michel zum klärenden Gespräch verabredet. Man weiß schon vorher, was passiert. Nämlich, dass aus dem anfangs sehr höflichen Umgang miteinander, aus den unzähligen Beteuerungen, man würde das jetzt zivilisiert klären, wie erwachsene Menschen das nun einmal tun, ein sich immer mehr verschärfender, immer offener zutage tretender Konflikt wird, in dem sich alle Beteiligten nichts schenken. Man weiß, dass es so kommt, und man beobachtet voller Spannung, mit großem Vergnügen und auch einer Prise Fremdschämen, wie die Situation allmählich kippt. Es dauert fast vierzig Minuten, bis es kippt, und dann geht es plötzlich ziemlich schnell, als Véronique und Michel behaupten, ihr Sohn sei entstellt, und diese Wortwahl weisen Annette und Alain weit von sich. Das ist der Auslöser, und nun wird gekotzt („Um Gottes Willen, der Kokoschka!“), gebrüllt, geflennt, gesoffen, geprügelt, ein Smartphone ertränkt, und die berühmten Tulpen müssen auch dran glauben. Im Publikum fühlt man sich beinahe dabei als Voyeur dieser intimen Wohnzimmergeschichte, deren schräge Sofalandschaft das spätere Kippen schon vorwegnimmt. Es gibt sehr viel zu lachen, auch wenn dieses Lachen manchmal ein schockiertes ist, denn die vier auf der Bühne werden immer fieser, unverblümter und auch körperlich brutaler. Dabei sind es nicht nur die Paare, die gegeneinander kämpfen, die Allianzen wechseln ständig, und die Ehe von Véronique und Michel ist am Ende des Abends komplett zerlegt. Die vier Darsteller spielen nicht nur fulminant und mit offensichtlich großem Spielspaß auf, sie passen auch von ihrer Physiognomie her ganz fabelhaft in ihre Rollen: Ausgerechnet die zartgliedrige Annette (Sabine Fürst), die anfangs am beherrschtesten und schüchterndsten wirkt, wird als Erste komplett die Beherrschung verlieren, Robert Besta als Alain gibt sich nicht nur cool-überlegen, sondern ist auch körperlich weitaus massiver als der Schluffi Michel (Marco Steeger), der sich komplett selber entlarvt, indem er so freundlich tut, gleichzeitig aber den von seinen Kindern geliebten Hamster einfach auf der Straße aussetzt, ohne nennenswerte Gewissensbisse zu zeigen. Anja Barth als Véronique wiederum ist ein wunderbarer Gegenpol zu Annette, sehr viel sportlicher, (scheinbar) moralisch über alle Zweifel erhaben und viel zu schnell viel zu zutraulich.

Was lernen wir aus diesem Abend, abgesehen davon, dass es ein großes Vergnügen ist, diesen vier Darstellern zuzusehen? Dass Konventionen auch eine Art Sicherheitsnetz darstellen, und wenn dieses Netz zerreißt, folgt der Absturz ins Bodenlose. Man kann dies überall und besonders schaurig-traurig an der AfD beobachten, die (nicht nur) im baden-württembergischen Landtag auf alle Regeln pfeift und deshalb von der Polizei aus dem Saal geworfen werden musste. Ein Stück also nicht nur zum Lachen, und wie schnell auch im echten Leben eine Situation kippen kann, ließ sich sehr schön im Theater selbst beobachten. Vor dem Stück führte Dramaturgin Annette Weinmann in Autorin und Handlung ein, und am Rande kriegten sich ein paar Zuschauer in die Wolle, weil die einen den anderen die Sicht versperrten, und innerhalb von Sekunden schlugen die Wogen hoch. Hinterher fiel mir übrigens ein deutscher Komiker ein, der den „Gott des Gemetzels“ quasi vorweggenommen hat. Wer hat Beziehungen so treffend und süffisant dargestellt wie Altmeister Loriot? Ich sage nur: Kosakenzipfel! Zwei Paare, die sich auf dem Campingplatz in Klagenfurt kennengelernt haben, streiten sich um das Zitronencreme-Bällchen auf einem Nachtisch…

„Der Gott des Gemetzels“ wird noch bis einschl. 9. März im Alten Schauspielhaus gespielt, die Nachfrage ist groß, schnell Karten besorgen!
https://www.schauspielbuehnen.de/
Und wer nicht in Stuttgart wohnt, kann sich ja den Film mit Kate Winslet, Jodie Foster und Christoph Waltz ansehen.

P.S. auch im neuen Jahr gibt es Lesungen zu „Schätzle allein zu Haus“ – natürlich mit Musik von Susanne Schempp!
Achtung, die Lesung bei Maschinenbau Schnaithmann (19.2.) ist ausverkauft!
Weitere Termine:
24. Februar Elisabeth Kabatek zu Gast beim „Lesezeichen“, Theater der Altstadt (11 Uhr)
12. März Wernau, Stadtbücherei (19.30 Uhr)
26. März Vaihingen/Enz, Buchhandlung Blessings for you (19.30 Uhr)
2. April Oberkochen, Stadtbibliothek (20 Uhr)
10. April Welzheim, Kultursäule (20 Uhr)
10. Mai Nürtingen, VHS (19.30 Uhr)
22. Mai Gomaringen, Bibliothek in der Schlossscheuer (20 Uhr)
28.6. Weissach, Bibiliothek in der Zehntscheuer

P.P.S.
Musiktermine:
23. Februar „Neues Land in Sicht – Vom Aufbrechen, Suchen und Ankommen“,
In peitschenden Wellen treibt Europa weiter nach rechts, Menschenrechte gelten nur noch für Privilegierte und die Wogen des Klimawandels lassen Ernten vertrocknen und bedrohen andernorts ganze Städte und Inseln durch Stürme und Wassermassen
Chorprojekt mit fünf Chören im Theaterhaus in Stuttgart. Sie singen für eine Welt, in der wir leben möchten!
https://www.theaterhaus.com/theaterhaus/?id=1,3,23425

30. März Vormerken Kulturnacht Stuttgart-Feuerbach mit den Chören der Gesangsschule Go Vocal!

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