Heute schon kumuliert und panaschiert?

Morgen ist Wahltag und hoffentlich erleben wir keine bösen antieuropäischen Überraschungen. In Stuttgart sind außerdem 60 Stimmen für den Gemeinderat zu verteilen. Da ist man ganz schön beschäftigt, bis man alles richtig kumuliert und panaschiert hat. Außerdem geht es im Blog um die supersympathische Autorin Kateřina Tučková aus Brünn und eine umwerfende Othello-Inszenierung im Stuttgarter Schauspielhaus.

In Stuttgart treten seltsame Parteien wie die „Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“ an. Immer noch besser als die Partei „Kein Fahrverbot in Stuttgart.“ Man wundert sich etwas, dass eine Partei damit wirbt, geltendes Recht aushebeln zu wollen. Schließlich haben nicht die Stuttgarter Gemeinderäte die Grenzwerte erfunden, sondern die europäischen Umweltminister, und die haben sich wiederum an der WHO orientiert.

Grauenhaftes schwant, wenn man sich im Zusammenhang mit der Europa-Wahl die Prognosen für den Europahasser Nigel Farage und seine Brexit-Partei anschaut. Wer glaubt, in Großbritannien kann es nicht mehr schlimmer kommen, wird momentan ständig eines Besseren belehrt. Boris Johnson als neuer Prime Minister, das wäre dann wirklich die schlimmstmögliche Europa- und Polit-Katastrophe.

Wer wissen will, wie es eigentlich gelingt, Menschen Lügen einzuflüstern und sie von Fake News zu überzeugen, der schaue sich Shakespeare an. Fake News gab es nämlich schon im Jahre 1604. In „Othello“ gelingt es Jago auf hinterlistigste, psychologisch raffinierteste Weise, den Titelhelden davon zu überzeugen, dass ihn seine geliebte, unschuldige Frau Desdemona betrügt. Am Ende sind Desdemona, Othello und Rodrigo tot. Das ist das Werk eines einzelnen Intriganten, Lügenerzählers und Fremdenhassers. Der wird im Schauspielhaus in Stuttgart von Matthias Leja so überzeugend gespielt, dass es einem eiskalt den Rücken ‚runterläuft. Für mich einer der besten Schauspieler, die seit dieser Spielzeit in Stuttgart auf der Bühne stehen. Inszeniert wurde Othello von Intendant Burkhard C. Kosminski. Der interpretiert die Figur Othello auch als labile Persönlichkeit, die vom Krieg traumatisiert ist. Der Krieg, der im Hintergrund in schnellen Videoschnitten illustriert wird, ist ein sehr moderner Krieg unserer Tage, auch das macht das Stück so aktuell. Othello wird vor der Sommerpause noch ein paarmal aufgeführt. Nicht verpassen!

An einen vergangenen Krieg wiederum erinnert Kateřina Tučková in ihrem Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“. Ich finde den deutschen Titel nicht ganz glücklich gewählt, weil man eine falsche Vorstellung davon bekommt, um was es tatsächlich geht. Wörtlich hieße der Roman „Die Vertreibung der Gerty Schnirch.“ Sei’s drum, am vergangenen Dienstag war Kateřina zu Gast im „Haus der Heimat“ in Stuttgart. Ihr Roman ist schon 2009 in Tschechien erschienen, wurde aber erst 2018 ins Deutsche übersetzt. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Magnesia Litera, dem wichtigsten Literaturpreis Tschechiens, und wurde zu einem Bestseller.

Kateřina, 1980 in Brno/Brünn geboren, erzählt die Geschichte der jungen Frau Gerta, die in Brünn mit einer tschechischen Mutter und einem deutschen Vater aufwächst. Als das Deutsche Reich den Krieg verliert, kehren sich die Verhältnisse um und nun werden die Deutschen aus Brünn vertrieben, im sogenannten Brünner Todesmarsch in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1945. 20.000 Menschen wurden damals vertrieben, Hunderte starben auf der Flucht. Kateřinas Roman erregte deshalb so viel Aufsehen, weil sie die erste tschechische Autorin war, die dieses Thema, bis dahin ein Tabu, aus Sicht der deutschen Opfer darstellte. Kateřina selbst hatte man in der Schule noch beigebracht, die Deutschen hätten nach dem 2. Weltkrieg die Tschechoslowakei „verlassen.“ Mittlerweile kann man offen über die Vergangenheit reden und der Todesmarsch ist kein Tabu mehr, dazu hat der Roman erheblich beigetragen, wie auch der Moderator und Dolmetscher Jaroslav Rudis, selbst Schriftsteller, bestätigte (und der, das sei auch nicht unterschlagen, unglaublich eloquent dolmetschte und moderierte). Rudis befragte die Autorin auch nach ihren intensiven Recherchen. Die gingen sogar so weit, dass Kateřina 70 Kilometer mit einem Kinderwagen die Marschroute nachlief, um sich besser in Gerta hineinzuversetzen, die im Roman ein kleines Kind hat. Die deutschen Texte bewiesen dann auch, wie gut es Kateřina gelungen ist, sich in ihre Heldin einzufühlen. Trotz des schweren Themas ein unglaublich faszinierender Abend mit einer absolut sympathischen Autorin, die sofort die Herzen des Publikums gewann, und das meine ich wirklich so, auch wenn es vielleicht kitschig klingt.

Ich freue mich schon auf dieses toll geschriebene Buch! Die Veranstaltung war ein Teil des Jubiläums der 30jährigen Städtepartnerschaft Stuttgart-Brünn und umso gespannter bin ich jetzt auf die Reise mit der städtischen Delegation, die am Donnerstag (Himmelfahrt) beginnt. Ein Programmpunkt wird am Samstag die „Wallfahrt der Versöhnung“ sein, die im Rahmen des Festivals „Meeting Brno“ stattfindet:

Bereits zum dreizehnten Mal gehen wir auf den Spuren von über zwanzigtausend Brünnern, die in der letzten Mainacht 1945 in Richtung österreichische Grenze getrieben wurden. Es waren vor allem Frauen, Kinder und Alte, während die arbeitsfähigen Männer in der Stadt Zwangsarbeit leisten mussten. Mindestens 1700 von ihnen erlagen unterwegs und in der darauffolgenden Zeit den Qualen des Marsches. Seit 2015 gehen wir symbolisch in der Gegenrichtung des historischen Marsches, also von dem Massengrab in Pohořelice (Pohrlitz) zurück nach Brünn.
Vor vier Jahren verabschiedeten Brünner Stadtverordnete anlässlich des Versöhnungsmarsches eine Deklaration zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft, die zu einem historischen Meilenstein im Prozess der Auseinandersetzung der tschechischen Gesellschaft mit diesem Kapitel ihrer Geschichte wurde. Auch der diesjährige Marsch wird ein einmaliges Erlebnis und Anlass für unwiederholbare Begegnungen sein. An der Veranstaltung nehmen viele Zeitzeugen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Tschechien, Österreich und Deutschland teil, samt Mitgliedern einer offiziellen Delegation aus Stuttgart, mit denen wir zugleich das dreißigjährige Jubiläum der Partnerschaft der beiden Städte feiern, die unmittelbar vor der Wende angebahnt wurde.

Zitat: https://www.meetingbrno.cz/de/einfuhrung/

Ich bin schon sehr gespannt auf Brno/Brünn, alle, die die Stadt kennen, schwärmen davon, und natürlich auf viele spannende Begegnungen vor Ort. Davor gibt’s noch einen kleinen Lagebericht vom Wahlabend im Stuttgarter Rathaus!

Buch: Kateřina Tučková, Gerta. Das deutsche Mädchen, Klak Verlag, 19,90 Euro

Büchertausch!

Elisabeth Kabatek, Jaroslav Rudis, Kateřina Tučková, Nadia vom Scheidt (Leitung Abteilung Außenbeziehungen bei der Stadt Stuttgart)

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