32 Kilometer Fußmarsch für die Versöhnung

Brünn/Brno Tag 3: Der heutige Tag hat eigentlich nur ein Thema: Versöhnung und ein gemeinsames, friedliches Europa.

Heute kommt der etwas verspätete Blog. Nach 32 Kilometern Fußmarsch gestern bitte ich um Nachsicht…

Seit 2015 treffen sich Deutsche und Tschechen beim Versöhnungsmarsch und gehen symbolisch in der Gegenrichtung des historischen Marsches, vom Massengrab in Pohořelice (Pohrlitz) zurück nach Brünn. Der Tag beginnt dort mit einem Gedenkakt für die über zwanzigtausend Brünner, die in der letzten Mainacht 1945 aus Brünn in Richtung österreichische Grenze getrieben wurden. Es waren vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, die Männer dagegen mussten Zwangsarbeit leisten. Es wird geschätzt, dass 1700 Menschen während oder nach dem Marsch starben.

Massengrab in Pohořelice/Pohrlitz

Der Marsch beginnt. Es sind viele ältere Menschen dabei, aber auch jüngere. Auf 32 Kilometern Wegstrecke gibt es viel Zeit, um miteinander zu reden.

Die einen haben eine Geschichte, in der von Vertreibung, Heimatverlust, dem Ankommen in einer neuen Heimat, in der man nicht willkommen geheißen wird, von Armut, Vergewaltigung, Betteln und Not die Rede ist. Die anderen wünschen sich, dass sich so etwas nie mehr wiederholt, und gehen die 32 Kilometer, um ihren Wunsch nach Frieden und einem gemeinsamen Europa Ausdruck zu geben.

Zum Beispiel Karel, 20 Jahre alt, den ich wegen seines proeuropäischen T-Shirts anspreche. Er wandert mit seinen deutschen Freunden aus München, studiert Jura und Politikwissenschaft in Brünn, und sein größter Traum ist es, einmal EU-Abgeordneter zu werden. Er engagiert sich bei der konservativen, europafreundlichen Partei TOP 09. „Auch in meiner Generation gibt es viele, die gegen die EU sind“, sagt er bedauernd. „Die, die glauben, von der EU nicht zu profitieren, wählen die Populisten.“ In Tschechien lag die Wahlbeteiligung nur bei 28 Prozent, stärkste Kraft ist die populistische ANO geworden.

Nach drei Stunden Fußmarsch gibt es endlich eine Pause in Rajhrad, bei der sich alle treffen. Es gibt Verpflegung und Getränke und die Füße dürfen ausruhen. Und theoretisch auch die Möglichkeit, in einen Bus zu steigen. Vormittags haben wir drei von der Stuttgarter Delegation, die wir stellvertretend für alle mitwandern, noch diskutiert, ob wir wirklich bis zum Schluss mitlaufen. Aber jetzt stellt sich die Frage gar nicht mehr. Es ist heiß und schwül und Gewitterwolken ballen sich am Himmel- aber hier laufen sogar hochschwangere Frauen und eine Mutter mit drei kleinen Kindern mit! Und komischerweise kommen einem die vielen Kilometer, obwohl die Strecke alles Andere als idyllisch ist und wir meist auf Asphalt laufen, gar nicht mehr schlimm vor. Die Zeit und die Kilometer verfliegen, die Gemeinschaft und das, was hier alle verbindet, nämlich der Wunsch nach Versöhnung und Frieden, verleihen uns Flügel.

Ob es den Marsch ohne Jaroslav gäbe? Jaroslav Ostrčilík ist 2007 die Strecke zum erstenmal gegangen, mit zwei Freunden. Damals lief er von Brünn in die andere Richtung. Jedes Jahr wurden es ein paar Leute mehr. Wie kommt man auf so eine Idee? „Ich bin in Österreich aufgewachsen“, erzählt er. „Ich hatte viele Mitschüler, deren Eltern vertrieben worden waren. Dann kam ich nach Brünn zum Studium und stellte fest, die Vertreibung ist ein einziges Tabu. Ich habe mir dann überlegt, dass es etwas braucht, dass erfahrbar ist, nichts Theoretisches, und so kam ich auf die Idee mit dem Gedenkmarsch.“ Die Idee wurde dann 2014 nach den Kommunalwahlen von den frisch gewählten Räten aufgegriffen. Im Jahre 2015, 70 Jahre nach der Vertreibung, gab es dann ein offizielles „Jahr der Versöhnung“. Seit 2015 also wird der Weg symbolisch in die umgekehrte Richtung gegangen und um das Datum herum gibt es ein Festival, „Meeting Brno“. Aus einer „Guerilla Aktion“, wie Jaroslav lachend sagt, ist nun ein international beachteter städtischer Gedenkakt geworden. Und was ist Jaroslavs persönliche Motivation? „Die Vertreibung war wie eine Eiterbeule, die gärt und vergiftet, wenn sie nicht behandelt wird. Worauf die Geschichte nicht stolz ist, muss ans Licht.“


Jaroslav Ostrčilík

Auf dem letzten Kilometer in Brünn versammeln sich normalerweise Gegendemonstranten der extremen Rechten und extremen Linken, und beschimpfen die Teilnehmer am Gedenkmarsch als Volksverräter. Doch glücklicherweise sind keine Gegendemonstranten zu sehen. Stattdessen haben sich viele Menschen versammelt, um den letzten Kilometer gemeinsam zu gehen. Feierlicher Abschluss mit einem Gedenkakt ist am Mendelplatz in einem wunderschönen Garten. Auch der deutsche Botschafter ist die ganze Strecke mitgewandert!

Was für ein bewegender, beglückender Tag, der zeigt, wie vielen Menschen Frieden und Versöhnung am Herzen liegt! Und der auch beweist, welchen wichtigen Beitrag Städtepartnerschaften wie die zwischen Brünn und Stuttgart leisten.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Stuttgarter Delegation sind auf dem Rückweg. Danke für die Begegnungen und Gespräche, schön war’s mit Euch! Gute Reise! Danke auch für überwältigende Herzlichkeit und Gastfreundschaft unserer Gastgeber, die uns nach Strich und Faden verwöhnt haben!
Ich darf noch ein bisschen Brünn erkunden und darüber bloggen. Ich freue mich drauf und bin gespannt, mehr von der wunderschönen Stadt zu sehen.

Nach dem Marsch: Das Weingut der Stadt Stuttgart beteiligt sich bei der Abschlussfeier und hat nicht nur den leckeren Wein im Gepäck, sondern praktischerweise auch einen Wassereimer…

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