Marco Goecke probt Gershwin mit Gauthier Dance – und auf das Ergebnis kann man sich jetzt schon freuen. Ein Probenbesuch.
Heute Morgen habe ich mir die Finger wundgewählt, um eine der wenigen Karten für die drei Vorstellungen des Stuttgarter Balletts Ende Juli zu ergattern. Punkt zehn Uhr brachen die Leitungen komplett zusammen, und nach fünfzehn Minuten gab ich frustriert auf. Kurz vor zwölf habe ich dann kapiert (Frühmerker), dass man auch online Karten bestellen kann. Es gab noch genau zwei Karten für den Sonntagabend. In der allerallerletzten Reihe, im 3. Rang des Opernhauses, aber man ist ja bescheiden geworden in den letzten Monaten…
Hoffen wir, dass unser Hunger nach Kultur bald wieder mehr gestillt wird. Noch immer konnte keine einzige Lesung von Chaos in Cornwall stattfinden, dabei sitzen Susanne Schempp und ich seit Monaten in den Startlöchern, und wir wünschen uns wirklich sehr, dass die für den Herbst geplanten Lesungen wie geplant über die Bühne gehen (bisher 7.10. Rottweil, 9.10. Filderstadt mit Musik, 14.10. Gomaringen).
Karten für Gauthier Dance sind mittlerweile beinahe so schwer zu ergattern wie für das Ballett. Das wird bei der neuen Produktion nicht anders sein. Im Augenblick probt Choreograph Marco Goecke mit der Dance Company. Wir erinnern uns: Marco Goecke war viele Jahre lang Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, und Eric Gauthier war viele Jahre Halbsolist beim Stuttgarter Ballett. Nun hat Eric seit über 10 Jahren seine eigene Tanzcompagnie, die am Theaterhaus angedockt ist und in der ganzen Welt tourt, und Marco Goecke ist nicht nur Ballettdirektor in Hannover, sondern auch „Artist in Residence“ bei Gauthier. Es bleibt alles in der Familie…
Eigentlich sollte am 18. Juni die Premiere von Swan Lakes im Theaterhaus über die Bühne gehen, mit vier Schwanensee-Stücken von Marie Chouinard, Marco Goecke, Hofesh Shechter und Cayetano Soto, allesamt Uraufführungen. Aber natürlich fiel die Premiere coronabedingt ins Wasser. Weil sich Marco Goecke aber sowieso schon den Juni für Proben in Stuttgart eingeplant hatte, wurde flugs umgeplant, und nun wird ein anderes Stück vorgezogen, das ursprünglich für das Tanzfestival Colours 2021 vorgesehen war und nun im Oktober im Theaterhaus Premiere haben soll: Lieben Sie Gershwin!
Wer liebt und kennt Gershwin nicht, wer hat nicht „Ein Amerikaner in Paris“ vor Augen oder „Summertime“ im Kopf? Marco Goecke hockt auf dem Fensterbrett des Probenraums in der Nähe des Löwentors, direkt gegenüber von der Spielstätte Nord, die zu den Staatstheatern gehört (ja, es bleibt alles in der Familie) und beobachtet, wie Theophilus Veselý in einem grandiosen Solo die „Rhapsody in Blue“ à la Goecke interpretiert.
Ich konnte mir noch nie vorstellen, wie man sich eine Choreographie ausdenkt. Wie macht man das? „Wenn ich das wüsste“, sagt Marco Goecke, mit einem Auge im Probenraum, und grinst.
Theopilus Veselý (alle Bilder: E.Kabatek)
„Es ist auch nicht anders als in der Literatur, wo man verzweifelt versucht, mit Buchstaben und Worten etwas Emotionales auszudrücken. Tanz ist vielleicht ähnlich wie Bildhauerei, eine Aneinanderreihung von Schritten, die mir einfallen.“ Und was ist da zuerst, die Musik, oder die Schritte? „Nein, mir schwirrt zuerst der Tanz im Kopf herum. Ich habe mich auch nicht besonders intensiv mit Gershwin befasst.“ Und wieviel entsteht dann beim Proben? „Es gibt schon einen Austausch mit den Tänzern, aber nicht so intensiv wie bei Proben im Theater. Tänzer diskutieren nicht so viel.“ Wie sehr sind die Proben jetzt von Corona geprägt? Nicht umsonst sitzen Choreograph und Ballettmeister Luis Eduardo Sayago draußen auf dem Fensterbrett und halten Abstand, nur Soli und Pas de deux sind tänzerisch möglich. „Ich kann gewisse Dinge nicht tun, ich kann keine Nähe herstellen, das ist schwierig“, sagt Goecke. „Ich werde Spiegel benutzen, damit es nach mehr Leuten aussieht auf der Bühne.“
von links (im Spiegel): Sidney Elizabeth Turtschi, Loiza Avraan, Bruna Andrade
Schon immer hat mich interessiert, warum die Arme in Goeckes Choreographien wichtiger erscheinen als die Beine, oder kommt mir das nur so vor? „Nein, das stimmt schon, ich finde einfach, wir Menschen begegnen uns mehr über den Oberkörper, der Oberkörper interessiert mich mehr. Wenn man ein Rendez-vous hat, würde man schließlich auch nicht die Füße auf den Tisch legen.“ Das leuchtet ein. Und dieses Flattern der Arme, das mich an Vögel erinnert? „Ich habe Flugangst“, bekennt der Choreograph. „Ich saß einmal im Flugzeug und habe Vögel beobachtet, und mir überlegt, warum wir Menschen eigentlich versuchen, Vögel zu imitieren.“
„Fünf Minuten vierzig“, sagt der Ballettmeister, keuchend und schweißgebadet steht Solist Theophilus Veselý allein im Probenraum, während die „Rhapsody in Blue“ verklingt. „Kannst du am Schluss noch ein bisschen wahnsinniger wirken?“, kommentiert Goecke. Dann schnappt er sich seinen Dackel und geht zum nächsten Fenster. Dort proben parallel drei Tänzerinnen, noch ohne Musik. Maximal fünf Personen dürfen gleichzeitig im Raum sein, also schaue ich von draußen zu und Marco Goecke geht in den Saal. Hochkonzentriert proben die drei Tänzerinnen unter den Augen von Marco Goecke und Ballettmeister Cesar Locsin. Wie wird das Endergebnis aussehen? Zu welcher Musik werden die drei tanzen? Wie wird das Licht sein, die Kostüme? Es ist ungemein spannend, dem Entstehungsprozess von „Lieben Sie Gershwin“ zuzuschauen. Übrigens heißt der Company Coach Egon Madsen.Wie gesagt, es bleibt alles in der Familie.
Marco Goecke, Cesar Locsin, Loiza Avraan
P.S. Die Premiere von „Lieben Sie Gershwin“ wird im Oktober im Theaterhaus Stuttgart sein. Details stehen noch nicht fest.