Was für ein Leben!

Beim „Familienabend“ erinnert das Theater Lokstoff an die jüdische Familie Kahn – und bringt dabei wildfremde Menschen an einen Tisch und ins Gespräch

Vor dem Haus in der Stuttgarter Stitzenburgstraße erinnern zwei Stolpersteine an das Ehepaar Max und Hilde Kahn. Beide wurden 1944 erst zum Killesberg gebracht und dann vom Nordbahnhof aus nach Riga deportiert, wo sie ermordet wurden. Ihre Tochter Hannelore, die ebenfalls deportiert wurde, überlebte die Gräuel der KZ-Jahre.

Seit mehr als 20 Jahren macht das Theater Lokstoff! in Stuttgart Theater im öffentlichen Raum. Wilhelm Schneck von Lokstoff begleitet mich, seit ich ins Theater gehe: er war viele Jahre Schauspieler im Ensemble der tri-bühne. Mit dem Leistungskurs Deutsch waren wir regelmäßig dort und sahen uns die Stücke an. Das habe ich ganz toll in Erinnerung. 2003 gründeten Schneck und Kathrin Hildenbrand dann das Theater Lokstoff und bespielen seither Stadtbahnen, den Charlottenplatz und viele andere öffentliche Räume. Und nun also der „Familienabend“ in dem Haus, in dem die Familie Kahn lebte.

Das Setting ist ungewohnt für einen Theaterabend: 16 Menschen sitzen um einen langen Tisch herum. Es geht eng zu (was auch daran liegt, dass sich die Autorin dieser Zeilen noch reingeschmuggelt hat), der Tisch ist schön gedeckt und geschmückt. Ein gewisses Erstaunen löst das bei den meisten Gästen aus, auch eine leichte Verunsicherung; Gespräche werden nur zwischen denen geführt, die gemeinsam gekommen sind. Am Kopfende sitzt Kathrin Hildenbrand von Lokstoff. Als alle eingetrudelt sind, erklärt sie, wie der Abend ablaufen soll: erst wird sie eine Dreiviertelstunde das Leben von Hannelore Kahn nachzeichnen, dann gibt es die Möglichkeit, im zweiten Teil des Abends miteinander ins Gespräch zu kommen. Ob das wohl funktioniert…

Kathrin Hildenbrand (ganz links) erklärt den Ablauf des Abends

Kathrin Hildenbrand erzählt vom Leben der Familie Kahn in Stuttgart. Sie reicht Familienfotos herum und liest aus Hannelore Kahns leider vergriffener Autobiografie, „Stuttgart – Riga – New York. Mein jüdischer Lebensweg“ und es dauert nicht lange, dann ist man gebannt von dem, was sie berichtet. Zu wissen, dass die Familie Kahn wenn auch nicht in dieser Wohnung, so doch in diesem Haus gelebt hat, zu hören, wie Hannelore Kahn allmählich ausgegrenzt und als Jüdin gebrandmarkt wird, erzeugt eine Nähe und Intimität, die beklemmend ist. Die Nachbarn, die sie ihr ganzes Leben lang kennt, spucken vor ihr aus, in der Straßenbahn muss sie vorne stehenbleiben, der Schule wird sie verwiesen.

Hannelore und ihr Bruder Heinz

Die ermordeten Eltern Hilde und Max Kahn

Doch das ist noch nichts im Vergleich zu dem jahrelangen Martyrium, das sie nach der Deportation ins KZ Jungfernhof bei Riga erwartet. Mutter und Vater werden bald ermordet, Hannelore überlebt nur, weil sie jede Arbeit verrichtet, die man ihr aufzwingt, und weil sie ganz offensichtlich eine unermessliche Stärke und Willenskraft besitzt. Sie wird aus dem KZ befreit, doch damit ist ihre Pein noch lange nicht zu Ende. Vom Regen in die Traufe landet sie in russischer Zwangsarbeit, bis es ihr endlich gelingt, nach Stuttgart zurückzukehren. Sie begegnet einem jüdischen Mann wieder, den sie vom Lager kennt, er wird ihre große Liebe und gemeinsam wandern sie nach New York aus, wo sie dann nach weiteren Jahren endlich ihren Bruder wiederfindet. Was für ein Leben, was für ein Leid – und was für eine Geschichte! Eine Geschichte, eng verknüpft mit der Geschichte des Hauses in der Stitzenburgstraße. Andrea Richter, die als Gastgeberin des „Familienabends“ fungiert, nahm mit Hannelore Kahn Kontakt auf und besuchte sie 2015 in New York. Dort begegnete ihr keine gebrochene Frau, sondern eine Frau, die sie mit Ihrer Freundlichkeit und Herzlichkeit tief beeindruckte. Das spricht auch aus den Zeilen eines Briefes, den Hannelore Kahn in die Stitzenburgstraße geschickt hat, nachdem die Hausbewohnerinnen und Hausbewohner erstmals mit ihr Kontakt aufgenommen und ihr einen Brief mit Fotos vom Haus geschickt hatten, und den Andrea Richter vorliest.

Nach diesem ersten Teil ist die Atmosphäre im Raum völlig verändert. Da ist Betroffenheit, Trauer, aber auch Nähe entstanden – Nähe zur Familie Kahn, und Nähe untereinander. Das anschließende gemeinsame Gespräch ist denn auch so angeregt, dass Kathrin Hildenbrand kurz vor zehn darum bitten muss, zum Ende zu kommen, weil die Gäste sonst wahrscheinlich bis Mitternacht weitergeredet hätten. Bei Himbeerschorle, Bier und Brezeln – „das hätten die Kahns auch zu sich genommen“ – geht es um Antisemitismus, um die Demos, um die AfD, darum, wie man reagieren kann, wenn jemand im öffentlichen Raum eine rassistische Äußerung macht, und darum, dass Hass nicht die Antwort sein kann auf die AfD. Es geht um die Macht der sozialen Medien, vor allem Tiktok, das extrem von rechter Propaganda gesteuert wird. Es sind auch jüngere Gäste da, und die sind vor allem wütend. Wütend, weil es um ihre Zukunft und ihr Land geht, und sie es einfach nicht fassen können, was die AfD und ihre Anhängerinnen und Anhänger mit diesem Land machen. Es ist spannend und tut gut, denn natürlich sind auch die Besucherinnen und Besucher des Familienabends in einer Blase. Eine wohltuende Blase, in der gemeinsam darüber nachgedacht und gesprochen wird, was man der Bedrohung von rechts entgegensetzen kann. Anfangs dachten sie, erzählt Kathrin Hildenbrand, sie würden einen Moderator für die Gespräche benötigen, aber schnell habe sich herausgestellt, dass das gar nicht nötig ist.

Leider sind alle Abende ausverkauft. Ein tolles Format, das lange nachwirkt. Danke an die Gastgeberin, danke, Lokstoff!

https://www.lokstoff.com

Zum Auftakt des Weltfrauentages findet am Donnerstag, 7. März, 19 Uhr, im Knosp Raum im Bürgerzentrum West eine Veranstaltung der AnStifter zur Initiative „Ein Platz für Betty Rosenfeld“ statt. Es geht dabei um die Umbenennung des Bismarckplatzes in Betty-Rosenfeld-Platz. Die Jüdin Betty Rosenfeld wuchs in der Breitscheidstraße auf und wurde in Auschwitz ermordet. Zum Auftakt der Veranstaltung spricht Elisabeth Kabatek. Mehr Infos hier:

Und zu guter Letzt: Am 2. Mai erscheint der neue Roman „Schwäbisch für Engel!“ Buchpräsentation am 22. Mai, 20 Uhr, Renitenztheater. Kartenlink:

https://renitenztheater.reservix.de/tickets-elisabeth-kabatek-schwaebisch-fuer-engel-lesung-mit-einer-prise-kabarett-und-ein-paar-ueberraschungen-in-stuttgart-renitenztheater-am-22-5-2024/e2181161

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